Es ist ein prominenter Parteiaustritt nach fast 30 Jahren Mitgliedschaft bei der SP: Chantal Galladé (46) wechselt zu den Grünliberalen. 15 Jahre sass sie für die Sozialdemokraten im Nationalrat. Im Dezember 2018 trat sie zurück, nachdem sie im Juni zur Präsidentin der Winterthurer Kreisschulpflege Stadt/Töss gewählt worden war.
«Das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hat die abwehrende Haltung der Gewerkschaften und in deren Schlepptau der SP gegen den Rahmenvertrag», begründete die bis anhin am rechten Rand der SP politisierende Galladé im Tages-Anzeiger ihren Parteiwechsel. Doch auch bei anderen Themen liege ihr die GLP heute näher als die SP.
Bei den Grünliberalen freut man sich über den prominenten Zuwachs: «Wir heissen Chantal Galladé herzlich willkommen in der GLP», sagt Parteipräsident Jürg Grossen auf Anfrage von watson. Galladé sei am richtigen Ort: «Wir unterstützen das für die Schweiz sehr gut ausgefallene Verhandlungsergebnis beim Rahmenabkommen», so Grossen.
Leider werde dieses von einer «Abschotter-Allianz» von links und rechts bekämpft. Der «dogmatische Widerstand» der Gewerkschaften und der SP gegen das Abkommen werde von vielen «europafreundlich gesinnten Wählerinnen und Wählern aus dem progressiven Lager» nicht goutiert, meint Grossen. Er ist deshalb überzeugt, dass manche ehemaligen SP-Wähler Galladés Beispiel folgen und bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst die GLP-Liste einlegen werden.
Das kann sich auch Politologe Michael Hermann vorstellen. Sein Meinungsforschungsinstitut sotomo hat letzte Woche eine Wahlumfrage publiziert, laut der die SP momentan 1,4 Prozentpunkte verlieren, die GLP hingegen 1,8 Prozentpunkte zulegen würde: «Das Thema ‹Verhältnis Schweiz-EU› hat an Bedeutung gewonnen», erklärt Hermann.
Für Hermann steht Chantal Galladés Parteiwechsel sinnbildlich für die Unzufriedenheit des Reformflügels der SP: «Die SP hatte lange das Gefühl, ihren liberalen Flügel am rechten Rand der Partei nicht pflegen zu müssen.» Die Führung um Parteipräsident Christian Levrat sei davon ausgegangen, dass es für sozialliberal gesinnte Wähler schlicht keine echte Alternative zur SP gebe. Zunächst zu Recht: In den Anfangsjahren habe die GLP in finanz- und sozialpolitischen Fragen sehr bürgerliche Positionen mit grüner Umweltpolitik verbunden und sei für unzufriedene SPler nicht in Frage gekommen.
Jetzt habe sie auch dank neuen Köpfen an der Spitze ihr sozialliberales Profil geschärft: «Der im Gegensatz zum von den Gewerkschaften geprägten Kurs der SP klar europafreundliche Haltung der GLP beim Rahmenabkommen könnte jetzt zum Katalysator für Sozialliberale werden, von der SP zu den Grünliberalen zu wechseln», glaubt Hermann. Die SP-Spitze habe im Einklang mit den Gewerkschaften früh einen scharfen Kurs gegen jegliche Kompromisse im Rahmenabkommen bezüglich dem heutigen Lohnschutz eingeschlagen: «Damit hat Levrat die SP in eine Ecke manövriert, aus der sie schwer wieder herauskommt.»
SP-Nationalrat Corrado Pardini ist die Speerspitze des Gewerkschaftsflügels und trat in der «Arena» an der Seite Christoph Blochers gegen das Rahmenabkommen an. Pardini bedauert Galladés Parteiwechsel und wünscht ihr «viel Glück und Zufriedenheit in der GLP». Der Berner weist die Kritik von Grossen und Hermann zurück: «Die SP und die Gewerkschaften setzen sich seit Jahren für stabile und verlässliche Beziehungen zur EU ein und wollen diese nach Möglichkeit mit einem institutionellen Abkommen absichern.» Doch die unabdingbare Voraussetzung dafür sei ein effektiver Schutz der im europäischen Vergleich hohen Schweizer Löhne.
Die roten Linien bezüglich Lohnschutz, die sich der Bundesrat selber gesetzt hatte, seien eine Grundbedingung, um in einer Volksabstimmung eine Mehrheit für das Rahmenabkommen zu erzielen. Die vorliegenden Gutachten zeigten klar auf, dass der vorliegende Vertragsentwurf diese Bedingung bei weitem nicht erfülle.
Doch FDP-Bundesrat Ignazio Cassis habe im vergangenen Sommer «fatalerweise» gegenüber der EU die Aufgabe dieser roten Linie signalisiert. Die SP wolle deshalb, dass der Bundesrat noch Änderungen beim Lohnschutz und anderen Punkten des jetzigen Rahmenabkommens aushandle. Wer es wie die GLP in der jetzigen Form bedingungslos unterstütze, nehme seine Verantwortung für das Land und die Arbeitnehmer nicht wahr.
Pardini befürchtet nicht, dass die SP europafreundliche Wähler an die Grünliberalen verliert: «Unsere Positionierung für eine aussenpolitische Öffnung, ein gutes Verhältnis mit der EU kombiniert mit einem effektiven Lohnschutz im Inland ist glaubwürdig und solide.» Er erhalte viele ermutigende Zuschriften zum Thema Rahmenabkommen: «Ich bin sehr optimistisch, dass wir den positiven Trend bei den kantonalen Wahlen im Frühling fortsetzen können und bei den eidgenössischen Wahlen im Oktober zulegen werden.»
Ähnlich klingt es bei der SP Schweiz. Gemäss Parteisprecher Nicolas Haesler will man die Konsultationen mit dem Bundesrat zum Rahmenabkommen vom 11. März abwarten, danach werde die Parteispitze bis Ende März Stellung beziehen. «Unsere Position war von Anfang an klar: Wir sind für eine Annäherung an die EU und ein Rahmenabkommen. Gleichzeitig ist der Lohnschutz für uns ein Thema, bei dem die Schweiz nicht nachgeben darf.»
Die SP bedaure den «persönlichen Entscheid» von Chantal Galladé, die Partei zu verlassen: «Wir sind durchaus überrascht davon, denn in ihren 15 Jahren im Nationalrat hat sie nie den Eindruck erweckt, sich in der SP grundsätzlich nicht wohl zu fühlen», sagt Haesler. In der SP habe es Platz für alle relevanten politischen Strömungen links der Mitte und man betrachte die Breite und die innerparteilichen Debatten als Stärke. In Bezug auf Galladés Kritik an der Europapolitik sagt Haesler, dass die SP keine Abwanderung von Wählern zur GLP aufgrund der Position zum Rahmenabkommen erwarte. Man nehme das Thema in Hinblick auf die Wahlen aber ernst: «Die SP sagt Ja zum Rahmenabkommen und Ja zum Lohnschutz. Sowohl als auch, nicht entweder oder. Die GLP will einzig das Rahmenabkommen, die Löhne und Arbeitsbedingungen sind ihr egal», betont Haesler.
Nationalrat Eric Nussbaumer ist einer der lautesten Unterstützer des Rahmenabkommens innerhalb der SP-Fraktion: «Das Thema ist in der Wahrnehmung der Bevölkerung wichtiger geworden», sagt der Baselbieter. Er erhalte viel Zuspruch dafür, dass er innerhalb der Partei für das Rahmenabkommen kämpfe. Teilweise herrsche die Angst vor, dass das Abkommen einen Abbau des Lohnschutzes bringe. «Ich bin aber davon überzeugt, dass der Lohnschutz mit noch zu erarbeitenden Korrekturen auf dem heutigen Niveau bewahrt werden kann.»
Wolle man eine Abstimmung über das Rahmenabkommen gewinnen, müssten sich alle wichtigen pro-europäischen Kräfte des Landes zusammentun: «Die SP sollte sich nicht in eine Position drängen lassen, bei der es den Anschein erweckt, dass wir gemeinsam mit der SVP für ein Scheitern des institutionellen Abkommens mit der EU kämpfen. Wir kämpfen für das Rahmenabkommen und den verlässlichen Lohnschutz», sagt Nussbaumer. Die derzeitige Debatte sei auf jeden Fall eine kommunikative Herausforderung für die SP: «In der Kommunikation unserer Position können wir noch besser werden.»