Die Schweiz ist ein spezielles Gebilde. Sie ist «die einzige Nation, die auf einen Zusammenschluss von bäuerlichen Talschaften und freien Städten zurückgeht», heisst es in dem am Montag vorgestellten Stadt-Land-Monitor 2021 des Instituts Sotomo. Konfliktfrei war dieses Verhältnis nie, was vor allem die stolze Stadt Zürich wiederholt zu spüren bekam.
Sie hatte bereits 1351 ein Bündnis mit den «Waldstätten» geschlossen, doch die Spannungen mit den bäuerlich geprägten Regionen entluden sich wiederholt in gewaltsamen Konflikten wie dem Alten Zürichkrieg oder den Kappelerkriegen während der Reformation. Die Zürcher zogen meist den Kürzeren. Der Stadt-Land-Gegensatz ist somit kein neues Phänomen.
Er prägt auch den vielleicht «schweizerischsten» aller Romane, Johanna Spyris «Heidi». Bei seinem Erscheinen 1880 gab es in der Schweiz allerdings noch keine «richtige» Grossstadt, wie Studienleiter Michael Hermann an der Medienkonferenz vom Montag erklärte. Weshalb das dem Alpöhi «entrissene» Heidi in Frankfurt am Main zu verkümmern droht.
Eine Metropole, die diesen Namen verdient, gibt es in der Schweiz bis heute nicht. Aber die Städte haben sich seit der Industrialisierung «urbanisiert». Der alte Gegensatz ist nicht verschwunden, er hat sich womöglich wieder verstärkt. Davon will die SVP profitieren, mit ihrer Kampagne gegen die «Luxus-Sozialisten» in den «Schmarotzer-Städten».
Das Potenzial ist vorhanden, zeigt die für den Agrarkonzern Fenaco erstellte Studie, für die rund 3000 Personen in der Deutsch- und Westschweiz befragt wurden. Zwei Drittel empfinden demnach den Stadt-Land-Gegensatz als «gross und relevant». Gleichzeitig bildet er die Realität kaum ab, denn ein Graben zwischen urbaner und ruraler Schweiz existiert nicht.
Nur acht Prozent der Befragten bezeichneten sich als Bewohner einer sehr ländlichen oder sehr städtischen Gemeinde. Die überwiegende Mehrheit nimmt ihren Wohnort als «Mischform» war. «Das ‹Dazwischen› ist die schweizerische Normalität», heisst es in der Studie. Oft wird dafür die Bezeichnung Agglomeration verwendet, aber das greift zu kurz.
Eigentlich bezeichnet die Agglo nur das Einzugsgebiet der Städte. Doch selbst weiter entfernt liegende Gemeinden im Mittelland wurden in den letzten Jahrzehnten dermassen be- und zersiedelt, dass sie ihren dörflichen Charakter zu einem grossen Teil verloren haben. Sie wurden zur «Hüsli-Schweiz», zum Bestandteil eines Siedlungsbreis.
Trotzdem oder gerade deswegen hat sich in der Bevölkerung ein starker «Dörfli-Reflex» gehalten. Auch das zeigt die Sotomo-Erhebung. Nicht weniger als 62 Prozent der Befragten wollen am liebsten im ländlichen Raum wohnen oder bezeichnen dies zumindest als gut vorstellbar. Auch jeder zweite Stadtbewohner möchte in einer ruhigeren Gegend leben.
Corona hat diese Sehsucht verstärkt. Mit der Krise hat der Wunsch nach mehr Wohnraum und vor allem nach einem eigenen Garten in den Städten stark zugenommen. Solche Befindlichkeiten sind aber auch Ausdruck einer gewissen Ambivalenz, denn gleichzeitig leben viele urbane Menschen sehr gerne und aus Überzeugung in der Stadt.
Dies zeigt die ebenfalls am Montag veröffentlichte Bevölkerungsbefragung 2021 der Stadt Zürich. Die Lebensqualität wird darin mehrheitlich «als hoch bis sehr hoch bewertet». Dazu gehören Bestrebungen, die Stadt velofreundlich zu machen und Autos höchstens noch mit Tempo 30 zu dulden. In den jüngsten Abstimmungen wurden sie klar befürwortet.
Hier will die SVP mit ihrer Anti-Stadt-Kampagne ansetzen, die mit dem 1.-August-Video von Parteipräsident Marco Chiesa lanciert wurde. Chancenlos ist sie nicht, wie ein weiterer, besonders auffälliger Befund in der Fenaco-Studie zeigt. Die «Liebe» zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung ist ausgesprochen einseitig verteilt.
Die Landbevölkerung wird von den Städtern mit überwiegend positiven Eigenschaften bewertet wie «sympathisch», «hilfsbereit», «gesellig» und «traditionell». Ganz anders sieht es in der «Gegenrichtung» aus. Stadtmenschen sind aus Sicht der Landbevölkerung arrogante und oberflächliche Egoisten, die nur am Konsum interessiert sind. Heidi lässt grüssen.
Die negative Sicht auf die urbane Schweiz dürfte auch von wirtschaftlichen Ressentiments getrieben sein. Das Land fühle sich von grossen Unternehmen übergangen, sagte Michael Hermann an der Medienkonferenz. Die Wirtschaftskraft konzentriert sich in den urbanen Gebieten, während das Land von Subventionen und Ausgleichszahlungen abhängig ist.
Das verletzt viele Landbewohner in ihrem Stolz. Dabei «bodigen» sie die Städte bei Volksabstimmungen häufiger als umgekehrt, zuletzt im Juni bei den Agrarinitiativen und beim CO2-Gesetz. Darin liegt eine Chance für die SVP, aber es besteht keine Gewissheit, dass sie Erfolg haben wird. Denn die finanziellen Abhängigkeiten sind eine Tatsache.
Die SVP zielt zudem auf die Kernstädte, doch die Schweiz besteht, wie die Studie zeigt, vornehmlich aus dem «Dazwischen». Und dort dürfte das Potenzial begrenzt sein. In der Erhebung ergriffen selbst bei der Basis der SVP nur 45 Prozent explizit für das Land Partei. Eine deutliche Mehrheit sprach sich für mehr Kontakte zwischen Stadt und Land aus.
Die «Grossagglomeration» Schweiz mag sich nach dem Dorfleben sehnen, ihre Bedürfnisse aber sind zunehmend urban. Das zeigte sich bei den Gemeindewahlen im Aargau, der eigentlich ein einziges «Dazwischen» ist. Die Grün-Parteien legten zu, während die SVP «gerupft» wurde. Was zeigt: Ihre Anti-Stadt-Kampagne könnte auch ins Auge gehen.
.
Sorry, aber merken deren Wähler eigentlich noch etwas?
Da es hier glaubs um Politik geht: Sollte ich jetzt „Die Mitte“ wählen?