Die Schweizer Landwirtschaft gleicht derzeit einem Tennisball in einem Match der politischen Flügel. Die Stimmzettel für die Massentierhaltungsinitiative sind noch nicht einmal ausgefüllt, schon zeichnet sich das nächste Volksbegehren ab. Dieses Mal stammt es aus der Feder der SVP.
Genauer von den beiden SVP-Nationalräten Marcel Dettling und Esther Friedli. Auf Dettlings Hof in Oberiberg SZ kündigte das Duo an, noch dieses Jahr die «Bauerninitiative» lancieren zu wollen. Ihr Ziel: Den Selbstversorgungsgrad in der Schweiz auf 60 Prozent erhöhen – netto.
Das Duo Friedli und Dettling begründete seinen Vorstoss mit dem Krieg in der Ukraine und den dadurch entstandenen Unsicherheiten auf dem Lebensmittelmarkt. «Der Ukraine-Krieg führt uns vor Augen, wie wichtig die Selbstversorgung ist», sagte Esther Friedli.
Die Schweiz steuere hingegen in die andere Richtung. Ab 2024 müssen mindestens 3,5 Prozent der Ackerflächen in Biodiversitätsförderflächen umgewandelt werden. «Es kann doch nicht sein, dass man als Bauer mehr verdient, wenn man Schmetterlinge zählt statt Nahrungsmittel produziert», nervte sich Dettling. Der Plan der SVP sieht vor, mehr Flächen in Ackerland umzuwandeln.
Die Idee dürfte bei vielen Bauern gut ankommen. So äusserte sich bereits der Direktor des Schweizerischen Bauernverbands, Martin Rufer, äusserst kritisch gegenüber den neuen Biodiversitätsförderflächen.
Doch ist das Vorhaben auch umsetzbar?
Zuerst die grundlegenden Fakten. Der Brutto-Selbstversorgungsgrad der Schweiz lag 2020 bei 56 Prozent. Rechnet man die importierten Futtermittel für die Inlandsproduktion mit ein, ergibt sich ein Netto-Selbstversorgungsgrad von 49 Prozent. Die SVP will aber 60. Um eine elfprozentige Erhöhung hinzubekommen, müssten die einheimischen Bauern knapp ein Viertel mehr produzieren. Ob das realistisch ist – dazu gleich mehr.
Zunächst sollte man sich anschauen, wieso die Schweiz so stark abhängig ist von Nahrungsmittelimporten. Ein Blick in die einzelnen Kategorien zeigt, dass der Bedarf an tierischen Nahrungsmitteln fast vollständig mit einheimischer Produktion gedeckt werden kann. Vor allem pflanzliche Produkte werden importiert.
Das hängt einerseits damit zusammen, dass Lebensmittel wie Kiwis, Kaffee, Kakao und Co. gar nicht in der Schweiz angebaut werden können. Des Weiteren verkaufen die Detailhändler auch im Winter Zucchini und Paprika. Aus hiesiger Produktion gibt es die meisten Gemüse- und Früchtearten aber nur in den Sommermonaten.
Fleisch, Milch und Eier können hingegen ganzjährig produziert werden. Trotzdem täuscht der Selbstversorgungsgrad an tierischen Lebensmitteln von 97 Prozent. Denn die Tiere – primär Schweine und Hühner – fressen importiertes Futter. Der Anteil tierischer Nahrungsmittel, der mit inländischem Futtermittel produziert wurde, beträgt lediglich 74 Prozent.
Das Futter für Säuli und Hüehnli machen der menschlichen Nahrung zudem den Platz streitig: Im Jahr 2020 wurde über 55 Prozent des angebauten Getreides in der Schweiz für die Futtermittelproduktion verwendet. Insgesamt werden auf 43 Prozent der gesamten Schweizer Ackerfläche Futtermittel angebaut. Heisst: Der Selbstversorgungsgrad bei pflanzlichen Lebensmitteln könnte substanziell höher sein, würde man das Ackerland nicht für die tierische Nahrungsmittelproduktion verwenden.
Der hiesige Selbstversorgungsgrad ist also das Resultat einer Prioritätensetzung. Schweizer Ackerland wird zu einem grossen Teil für die Futtermittelproduktion verwendet. Die ganzjährige Verfügbarkeit exotischer Produkte senken den Selbstversorgungsgrad weiter.
Die Liste an Abhängigkeiten ist zudem noch um einiges länger: Saatgut, Dünger, Treibstoff und Pflanzenschutzmittel stammen allesamt zu fast 100 Prozent aus dem Ausland. Ohne Feldarbeiter und Erntehelfer aus Osteuropa könnte die Produktion ebenfalls nicht aufrechterhalten werden. Oder wie Christoph Hofer, Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft, gegenüber der NZZ sagte: «Wir werden immer abhängig sein vom Ausland.»
Mit dieser Ausgangslage im Hinterkopf, hin zur Frage, wie realistisch die Pläne der SVP sind.
Marcel Dettling ist sich seiner Sache sicher. 60 Prozent Selbstversorgungsgrad seien ohne Weiteres möglich, «wenn die Anreize fürs Produzieren erhöht werden statt fürs Nichtstun».
Den Selbstversorgungsgrad auf 60 Prozent zu erhöhen, wäre tatsächlich keine Herkulesaufgabe. Und zwar mit der Umstellung auf eine vermehrt pflanzenbasierte Ernährung. Die Anzahl Hühner und Schweine müsste drastisch reduziert werden, Kühe könnten auf dem für den Ackerbau untauglichen Weideland grasen.
Triebe man dies auf die Spitze, könnte man auch einen Selbstversorgungsgrad von nahezu 100 Prozent erreichen. Pläne zur Notversorgung der Schweiz wurden bis zum Ende des Kalten Krieges regelmässig ausgearbeitet. 1990 rechnete es der letzte sogenannte Ernährungsplan vor: Die Schweizer Bevölkerung könnte nach einer Umstellung der landwirtschaftlichen Produktion auf vorwiegend pflanzliche Nahrungsmittel mit 2300 Kilokalorien pro Person und Tag aus dem eigenen Boden versorgt werden.
Die 60-Prozent-Marke wäre aber auch mit dem jetzigen Bestand an Nutztieren erreichbar. Jedes Jahr fallen in der Schweiz 330 Kilogramm vermeidbarer Lebensmittelabfall an – pro Person. Gemäss einer Schätzung des Bundesrats könnte man den Brutto-Selbstversorgungsgrad um rund 11 Prozent erhöhen. Dafür müssten zwei Drittel der Lebensmittel, die heute im Abfall landen, konsumiert werden.
Eine Reduktion von Food Waste oder der Tierbestände sieht die «Bauerninitiative» allerdings nicht vor. Im Gegenteil: Die Viehwirtschaft soll gestärkt werden. Der angepeilte Selbstversorgungsgrad soll durch mehr Ackerland erreicht werden. Und ja: Kurzfristig könnte der Selbstversorgungsgrad so erhöht werden.
«Es braucht mehr Anbauflächen statt Brachflächen, Buntwiesen und Steinhaufen», sagte Esther Friedli zum «Blick». Ihrer Ansicht nach sind es die Biodiversitätsförderflächen, die die Schweiz zu abhängig machen vom Ausland. Dass ab 2024 mindestens 3,5 Prozent der Ackerflächen in Biodiversitätsförderflächen umgewandelt werden müssen, macht das SVP-Duo wütend.
Besonders schlecht zu sprechen sind sie auf Umweltministerin Simonetta Sommaruga: «Sie hat es bei der Energieversorgung verbockt, und jetzt grätscht sie auch bei der Landwirtschaft mit voller Wucht rein», sagte Marcel Dettling.
Es stimmt, dass eine intensivere Produktion den Selbstversorgungsgrad erhöhen würde. Im Umkehrschluss heisst das folglich auch: Eine ökologischere Inlandsproduktion kann sich negativ auf die Kalorienproduktion auswirken. Biodiversitätsförderflächen oder ein reduzierter Einsatz von Futtermitteln, Kunstdünger und Pestiziden können das Ertragsniveau senken. Zumindest kurzfristig.
Langfristig führt kein Weg an einer ökologischeren Landwirtschaft vorbei. Die Welt – und damit auch die Schweiz – befindet sich inmitten des sechsten grossen Artensterbens der Geschichte. Exzessives Düngen, Pestizideinsatz und die Zerstörung natürlicher Lebensräume für mehr Ackerland sind die Haupttreiber der Biodiversitätskrise.
Die Forschungsanstalt Agroscope kam nach einer fünfjährigen Untersuchung 2021 zum Schluss, dass die Schweiz in tieferen Zonen «ein ausgeprägtes Defizit der Biodiversität» aufweise. Auch der Bundesrat kommt zum Schluss, dass «die Produktionsintensität in der Schweiz heute teilweise über dem ökologisch tragbaren Niveau» liegt.
Fruchtbare Böden und Biodiversität sind jedoch essenziell für eine funktionierende Landwirtschaft. Eine weitere Intensivierung der Produktion würde die Ernährungssicherheit der Schweiz erheblich gefährden. Beispiele aus der Geschichte gibt es einige: In den 1930er-Jahren wurden etwa grosse Teile der USA und Kanadas als «Dust Bowl» bezeichnet (zu Deutsch: Staubschüssel). Nach der Weltwirtschaftskrise rodete man riesige Flächen für die landwirtschaftliche Nutzung. Die Folge: Verheerende Dürren und Staubstürme.
Die SVP-Initiative käme also einem Eigentor gleich, da sie langfristig zu einer Senkung des Selbstversorgungsgrades führen würde. Auch berücksichtigt sie nicht, dass eine intensivere Produktion mehr Dünger, Energie, Pflanzenschutzmittel oder Saatgut voraussetzt. Alles Dinge, die importiert werden müssen und somit die Auslandsabhängigkeit erhöhen.
Es sind folglich nicht die Biodiversitätsförderflächen, die uns abhängig machen vom Ausland. Sondern das Fehlen ebendieser. Will die SVP die Bauern tatsächlich davor bewahren, eines Tages nur noch Schmetterlinge zählen zu können, wäre eine Initiative für eine ökologischere Landwirtschaft wohl zielführender.
Da es bei denen um das Wohl der Bevölkerung und der Natur und nicht um ihren Eigenprofit ging, hat man sie bis aufs Messer bekämpft.
Irgendwann sollten doch auch die dümmsten Wähler dieser Rattenfänger aufwachen, oder nicht?
Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.