Gut zwei Wochen vor der Abstimmung nutzten Gewerkschafter die Gunst der Stunde und warben am 1. Mai für den Mindestlohn. SGB-Chefökonom Lampart konterte Drohungen der Arbeitgeber, und vpod-Präsidentin Prelicz-Huber berichtete von Löhnen um 1200 Franken. Nur der oberste Gewerkschafter kehrte der Schweiz für einmal den Rücken.
Paul Rechsteiner hielt seine 1.-Mai-Rede dieses Jahr in Nürnberg - auf Einladung des Gewerkschaftsbunds Mittelfranken. Nach einem Exkurs über den Ersten Weltkrieg und Europa als Friedensprojekt ging er dort gleichwohl auf das Schweizer Motto ein. Mindestlöhne seien weltweit die «sozialpolitische Forderung der Stunde», sagte der SGB-Präsident und SP-Ständerat gemäss Redetext. «Die menschliche Arbeit ist keine Billigware.»
Dies gelte nicht nur für die Schweiz und Deutschland: «Die Forderung nach Mindestlöhnen ist heute so zentral wie einst das Verbot der Kinderarbeit, die Einführung von Höchstarbeitszeiten und die Regelung von Ferienansprüchen.»
SGB-Chefökonom Daniel Lampart ging in Rheinfelden AG auf das Phänomen ein, dass die Gewerkschaften jeweils wegen ihrer Forderungen zunächst bedroht werden und die Erfolge später gar von den Arbeitgebern gelobt werden. Als Beispiel nannte er den Gesamtarbeitsvertrag, den heute selbst Bundesrat Schneider-Ammann als Königsweg preise.
Der gleiche Mechanismus sei nun beim Mindestlohn zu beobachten. Der Kampf werde härter, die Arbeitgeber drohten mit Massenarbeitslosigkeit. Diese Drohungen seien nichts Neues, die Realität sei jedoch oft eine andere.
Unia-Co-Präsidentin Vania Alleva empörte sich in Zug über die Mindestlohngegner. Dass diese jetzt die Sozialpartnerschaft als goldenen Weg für das Aushandeln von Mindestlöhnen priesen, sei Heuchelei: «Wenn es darum geht, mit uns zu verhandeln, schalten sie auf sture Verweigerung und Blockade.»
Allevas Präsidiumskollege Renzo Ambrosetti stiess in Freiburg ins gleiche Horn. Er störte sich daran, dass Arbeitgeber, Wirtschaftsverbände und bürgerliche Politiker das Bild verbreiten, dass es allen im Land gut gehe: «Dieses Bild ist eine Lüge.» Der Reichtum der Schweiz werde von allen erarbeitet, aber ungerecht verteilt.
Alain Carrupt, Präsident der Gewerkschaft Syndicom, rief in seiner Rede in Fleurier NE dazu auf, nach dem Nein zur 1:12-Initiative nicht aufzugeben. Der Kampf für die Lohngerechtigkeit müsse weitergehen. Ein nationaler Mindestlohn sei nötig für die über 300'000 Menschen, die in der Schweiz für einen skandalös tiefen Lohn arbeiteten.
Auch vpod-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber ging in Olten SO auf die Direktbetroffenen ein - vor allem auf die Frauen. Die Mehrheit arbeite in klassischen Frauenberufen wie der Kinder- oder Betagtenbetreuung. Diese Aufgaben seien «ausserordentlich anspruchsvoll».
Die Arbeitsbedingungen - insbesondere in der privaten Betagtenbetreuung und vor allem für sogenannte Care-Migrantinnen - seien indes «teilweise katastrophal». Der vpod habe Kenntnis von Löhnen um 1200 Franken pro Monat.
Für Giorgio Tuti, den Präsidenten der Eisenbahnergewerkschaft SEV, ist ein Mindestlohn aber nicht nur für die Wenigverdiener selbst wichtig. Positive Auswirkungen hätte er auch auf die Sozialwerke, sagte Tuti in Brig VS. Doch eigentlich gehe es um etwas Übergeordnetes: «Es geht um Anstand, denn keine Arbeit kann weniger wert sein als 4000 Franken.»
(kub/sda)