Die Aussagen zur Nato von Armeechef Thomas Süssli liessen aufhorchen. Auf die Frage, ob im Ernstfall ein Nato-Beitritt zur Diskussion stehe, sagte er: «Ein Beitritt zur Nato steht zurzeit nicht zur Debatte.»
Süssli liess jedoch eine entscheidende Ergänzung folgen: «Aber wenn wir in einen Krieg hineingezogen werden, fallen die neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen, und dann kann die Schweiz beispielsweise mit Nachbarländern zusammenarbeiten. Darum ist es wichtig, dass unsere militärischen Systeme kompatibel sind mit umliegenden Ländern und dass wir gemeinsame Übungen machen.»
So deutlich sagte noch nie ein Armeechef, dass sich die Armee im Falle eines Angriffs auf die Schweiz indirekt unter das Dach der Nato begeben würde. In einer Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten, die – mit Ausnahme Österreichs – Nato-Mitglieder sind.
Ging es um die Nato, äusserten sich die Armeechefs in den letzten zwei Jahrzehnten öffentlich jeweils höchst zurückhaltend. Der 2020 verstorbene Christophe Keckeis, erster Chef der Armee (zuvor hiess der Posten Generalstabschef) von 2004 bis 2007, war zwar ein klarer EU-Befürworter.
Auch war er der Meinung, die Schweizer Armee sei ohne internationale Kooperationen «nicht mehr tauglich», wie er 2005 im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» sagte. In die Nato wolle er aber trotzdem nicht, beteuerte er.
André Blattmann, Armeechef von 2009 bis 2016, sagte 2010 im «Tages-Anzeiger» fast wortwörtlich denselben ersten Satz, wie ihn Thomas Süssli 2022 macht: Ein Nato-Beitritt stehe «nicht zur Debatte». Bei Blattmann fehlte allerdings der Begriff, den Süssli heute verwendet: «zurzeit». Es war ein absolutes Nein.
Immerhin sprach Blattmann von drei «theoretischen» Möglichkeiten für die Armee. Erstens: Sie mache alles alleine – als «Igel-Armee». Zweitens: Sie trete einer Verteidigungsallianz bei. Drittens: Sie begebe sich in eine Kooperation mit den Nachbarn. Mit ihm, sagte Blattmann, könne man «über alles» diskutieren.
Philippe Rebord, Armeechef von 2017 bis 2019, umdribbelte die Frage elegant, ob die Schweiz der Nato beitreten solle. «Die Politik müsste das entscheiden», sagte er 2018 in der «Schweiz am Wochenende».
Dass sich Keckeis, Blattmann und Rebord in Sachen Nato dermassen zurückhielten, hatte auch mit ihren Chefs zu tun. Das Verteidigungsdepartement (VBS) war zwischen 1995 und 2018 ohne Ausnahme in SVP-Hand. Da gab es – Ausnahme: Adolf Ogi – für die Armeechefs keinen Spielraum in Sachen Nato. Die bewaffnete Neutralität galt als sakrosankt.
Ein ranghoher militärischer Insider hält fest: «André Blattmann zum Beispiel wäre wohl unter Ueli Maurer entlassen worden, hätte er dasselbe gesagt wie Thomas Süssli heute. Aber Süsslis Aussagen sind mutig und richtig.»
Mit Mitte-Bundesrätin Viola Amherd, seit 2019 VBS-Vorsteherin, verschoben sich die politischen Voraussetzungen. Mitte-Präsident Gerhard Pfister, Amherds Parteikollege, spricht inzwischen davon, dass die Schweiz ihre F-35-Kampfjets für Europas Luftüberwachung einsetzen könnte.
Dieser Vorschlag hat aber mit der Zeitenwende vom 24. Februar 2022 zu tun. In jener Nacht startete Russlands Präsident Wladimir Putin die Invasion in der Ukraine.
«Mit dem Krieg in Europa hat sich die Situation grundlegend verändert gegenüber früher. Das hat Folgen für den ganzen Kontinent», sagt Philippe Brandt, Schweizer Botschafter bei der Nato in Brüssel. In diesem Kontext sind auch die Nato-Aussagen von Armeechef Süssli zu sehen. Sie seien «fachlich korrekt», betont Brandt. «Die Schweizer Neutralität ist dann aufgehoben, wenn die Schweiz angegriffen wird und sich selbst gegen einen Angreifer verteidigen muss.»
Die Schweizer Nato-Mission in Brüssel befindet sich an der Boulevard Léopold III. Gleich auf der gegenüberliegenden Strassenseite, nur 400 Meter entfernt und in Sichtweite, befindet sich das Headquarter der Nato.
«Die Schweizer Neutralität wird bei der Nato voll respektiert. Wir hatten nie Probleme damit», sagt Botschafter Brandt. Doch auch er betont – wie Armeechef Süssli – die herausragende Bedeutung der Interoperabilität mit der Nato. «Sie befähigt die Schweizer Armee, mit den Armeen der Nachbarstaaten zu kooperieren.» Das sei «extrem wichtig» und «ein grosser Vorteil» für die Schweiz.
Es war Bundesrat Adolf Ogi (SVP), der die Annäherung an die Nato stark forcierte, als er 1996 das VBS übernahm. Sein Vorgänger Kaspar Villiger (FDP) hatte das Projekt der Nato-Friedensinitiative «Partnership for Peace» vorbereitet. Ogi trieb es entschieden voran. Am 30. Oktober 1996 entschied der Bundesrat formell, «Partnership for Peace» beizutreten.
Ogi sorgte 1999 im Rahmen der friedensfördernden Militärmission KFOR auch für die Entsendung von Schweizer Soldaten in den Kosovo – die Swisscoy. Damit zog er sich den Zorn von SVP-Doyen Christoph Blocher zu.
Bundesrat Ogi war aber auch dafür verantwortlich, dass neben dem Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik das Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte und das Internationale Genfer Zentrum für humanitäre Minenräumung entstanden. Die drei Zentren gehören inzwischen nicht mehr zum VBS, sondern zum Aussendepartement (EDA). Sie stehen der Nato allerdings nach wie vor für Expertisen zur Verfügung.
Heute tauscht sich die Schweiz auch in anderen Themen mit der Nato aus: Cybersicherheit, Innovation, künstliche Intelligenz und neue Technologien. Dazu kommt die Zusammenarbeit beim Projekt «Frauen, Frieden, Sicherheit», das aus der UNO-Sicherheitsratsresolution 1325 entstand. Dabei geht es um den Schutz von Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten.
Die Mitarbeiter der Schweizer Nato-Mission haben jederzeit Zugang zum Nato-Headquarter. Sobald es aber um vertrauliche oder geheime Sitzungen geht, müssen sie draussen bleiben.
Die Schweiz übt zwar am Boulevard Léopold III in Brüssel den Ernstfall. Sie bleibt dabei aber neutral. Zumindest, solange er nicht eintritt.
Wie wichtig es ist, objektiv die Armee zu analysieren, sieht man bei Putins Armee. Diejenigen, die auf Missstände aufmerksam machten, wurden aussortiert. Putin bekam zu hören was er wollte, auch wenn es nicht den Tatsachen entsprach. Deshalb war Putins Kriegsführung bisher ein Desaster.
Darum sollte man auch bei uns Mängel erkennen und auch benennen dürfen.
Schön wärs...