Hier riecht der Berg staubig und nach Kreide. Hubert Bär geht zu einem Gesteinshaufen, nimmt einen faustgrossen Brocken, wiegt ihn in der Hand hin und her. Dann schlägt er den Stein ein paar Mal auf einen grösseren Felsbrocken, testet so die Beschaffenheit. Es ist Kalkstein, extrem weich. Zufrieden setzt sich Bär gemäss den Anweisungen der Fotografin hin.
Mangels Tunnelbaustellen trifft die «Nordwestschweiz» den 63-jährigen Bär in einem Kalksteinbruch bei Netstal in der Nähe von Glarus. Dort ist der Österreicher angemeldet, weil er zuletzt für das nahe Kraftwerk Linthal gearbeitet hat. Die Kalkgrube kommt uns geeignet vor, um den Mineur in seinem Element zu zeigen. Rein optisch könnten die Steinbrocken aus dem Gotthard stammen. Wäre der Gotthard aus Kalkstein statt aus Gneis, er hätte an Sissi weniger Verschleiss verursacht.
Sissi – in Anlehnung an ihre bekannteste Kaiserin nannten Bär und seine österreichischen Kumpel die Tunnelbohrmaschine so. Die Italiener haben im alten Gotthard-Bahntunnel geschuftet, den neuen haben vor allem Österreicher gebaut. Bär war Vortriebspolier und Schichtleiter über einen 30-köpfigen Trupp. «Nur zwei, drei waren nicht Österreicher.»
Er und seine Mannschaft haben den Gotthard-Basistunnel von Bodio bis Sedrun gebohrt. Über 30 Kilometer. Elf Jahre verbrachte Bär im Loch. Im Herbst 2010 durchschlug Sissi bei Sedrun das letzte Stück Gneis. Hubert Bär trug als Erster die Schutzpatronin der Tunnelbauer, die heilige Barbara, durch die Öffnung.
Bär hat wenig Zeit. Gleich muss er zum örtlichen RAV, ehe er sich auf die sechsstündige Rückfahrt ins Dorf Stall im heimischen Oberkärnten macht. Seit seiner Mitarbeit am Kraftwerk Linthal ist Bär arbeitslos.
Im Auto erzählt der Kärntner über ein Arbeitsleben auf Wanderschaft. «In Österreich habe ich Tunnel gebaut, in Sizilien, Neapel, sogar im Irak und im Iran», erinnert er sich. Seit 1974 – manchmal war er wochenlang von zu Hause weg. «Die eigene Tochter hat mich gar nicht wiedererkannt, als sie noch klein war.»
Das Geld lockte Bär in den Tunnel. Die Arbeit unter Tag war gut bezahlt. «Zehn Jahre, dachte ich zuerst. Wollte ja nur die Hypothek unseres Hauses damit abbezahlen.» Doch dann liess ihn der Tunnel nicht mehr raus: «Es war nicht mehr nur das Geld, das Tunnelfieber hatte mich erfasst.»
Es führte ihn letztlich in die Schweiz. Erst war Bär anderthalb Jahre im Lötschberg-Basistunnel am Werk. Dann riefen ihn die Gotthard-Bauherren an. Sie brauchten einen erfahrenen Mann in Bodio. «Der längste Tunnel der Welt – eine solche Gelegenheit bekommst du nur einmal im Leben», dachte er sich, sagte zu – und nahm gleich das halbe Heimatdorf mit.
In Kärnten leben viele Familien vom Tunnel- und Bergbau. «Als es am Gotthard losging, blieben unsere Frauen daheim allein mit dem Pfarrer, dem Bürgermeister und dem Postboten», sagt Bär lachend.
Der Gotthard-Basistunnel bricht alle Rekorde. Auch für Bär war er der Höhepunkt seines Arbeitslebens. Die Schichten hatten es in sich. Zu Beginn waren es jeweils acht Tage am Stück, unterbrochen von jeweils drei freien Tagen, später waren es 10-Tages-Schichten à zehn Arbeitsstunden, dafür gab es dazwischen fünf Arbeitstage frei. Dann ist Hubert Bär jeweils nach Hause gefahren zu seiner Frau. Zuerst in Biasca, später in Faido leistete er sich eine Mietwohnung, um nicht im Arbeitercamp wohnen zu müssen. «Ich konnte so besser abschalten», erklärt er. Ferien gab es nur einmal im Jahr. Im August ruhten am Gotthard jeweils für drei Wochen die Baumaschinen.
Die Arbeit war hart. Neun Arbeiter kamen bei den Arbeiten im Gotthardtunnel ums Leben. Bei Unfällen mit Fahrzeugen, Maschinen, erschlagen von Steinbrocken. Bärs Trupp war nicht direkt betroffen. «Ein Handbruch und eine Fingerquetschung», erinnert sich Bär. Nirgendwo aber fanden Tunnelarbeiter bessere Arbeitsbedingungen vor als im Gotthard und in der Schweiz, sagt er. Und besseren Lohn: «Fast das Doppelte wie in Österreich, 6000 bis 8000 Franken brutto gab es jeden Monat.»
Bärs Sissi durchbohrte auch den Fels unterhalb der berüchtigten Piora-Mulde. Die Planer und Arbeiter waren nervös. Probebohrungen hatten auf katastrophale Verhältnisse hingewiesen. Doch es kam anders: Der Vortrieb war tiefer unten, als der Grossteil des bröselnden Piora-Gesteins überhaupt hinreichte. Nur heiss war es da, erinnert sich Bär. 38 Grad bei einer Luftfeuchtigkeit von über 90 Prozent. «Immer wieder gab es Wassereinbrüche. Es war 41 Grad heiss, das ist selbst zum Duschen zu heiss.»
In der Schweiz hatte sich die Politik ein teures Projekt mit grossen Unsicherheiten geleistet. An vorderster Front stand Adolf Ogi, mit dem Hubert Bär bis heute befreundet ist. Bär schwärmt von Ogi, der aus seiner Sicht ein Ausnahmepolitiker war. «Ein feiner Mensch. Ganz anders als die Politiker üblicherweise ticken. Die denken doch nur an sich.»
Nach dem Durchstich wurden Bär und die Kärntner nicht mehr gebraucht. Sissi wurde abgebaut. Und wie unter Tunnelbauern üblich, zogen die Kärntner weiter. Zum nächsten Tunnel. Bär selbst erhielt von 2013 bis 2015 eine Anstellung in der Bauaufsicht beim Axpo-Wasserkraftprojekt Linthal, weshalb er bis heute eine Wohnung zuhinterst im Glarnerland mietet. Und an diesem Tag für einen Termin aufs Glarner Arbeitsamt muss. «Ich tingelte immer von Anstellung zu Anstellung. Doch nun nehme ich das Arbeitslosengeld gerne in Anspruch.»
Im Sommer lässt sich Bär auf ein letztes Engagement im Umfahrungstunnel von Küssnacht SZ ein. Danach will der 63-Jährige in Frühpension. «Bevor Dreck und Staub meinem Körper den Rest geben.» Noch ist er bei guter Gesundheit. Hoch über seinem Heimatdorf besitzt er zwei Almhütten, zu denen er sich im Winter ab und zu mit Tourenski begibt. «Zum Ausgleich», sagt er.
Die Fotos sind im Kasten. Wir fahren zur Baugrube raus. «Diese Arbeit hier draussen wäre nichts für mich», sagt Bär, als er den Bauhelm ablegt. «Viel zu hell!»