Martin Schmieds Tage starten derzeit früh. Seine Schicht beginnt mal in Ziefen und endet in Lupsingen, mal führt sie von Eptingen nach Giebenach. Er fährt einen Müllwagen durch die Baselbieter Dörfer oder steht hinten auf ebendiesem Lastwagen und sammelt die Abfallsäcke der Einwohner ein, die noch in ihren Betten liegen und schlafen.
Normalerweise lenkt der 49-Jährige aus Lupsingen eine Boeing 777. Als Linienpilot einer der grössten Airlines Europas, die in diesem Artikel nicht genannt werden möchte, hat er seit Beginn der Coronakrise praktisch nichts mehr zu tun. Im Lockdown habe er deshalb Zeit gehabt, alles zu erledigen, was es zu tun gab: Ausmisten, Hausarbeiten, Gärtnern. «Irgendwann war aber alles getan», meint Schmied. Eine neue Aufgabe musste her.
Es war Mai, als er mit seiner Frau im Garten sass und die Müllabfuhr vorbeifahren sah. «Das wollte ich als Kind immer tun», habe er seiner Frau gesagt, und schiebt nun im Gespräch eine Erklärung nach: «Hinten auf dem Müllwagen durch das Dorf surfen: Ich dachte immer ‹Das muss der coolste Job der Welt sein›.» Für viele Erwachsene klingt das vielleicht seltsam, mit dem Beruf verbindet man nicht nur Positives. Als Kind habe man diese Gedanken jedoch nicht, meint Schmied. Doch konkret wurde der Traum dennoch nie.
Martin Schmied ist während der Studienzeit zum Fliegen gekommen – erst hobbymässig, dann bei Crossair, später, nachdem die Kündigungswelle der Airline auch ihn getroffen hat, bei Lufthansa, als Linienpilot. Heute fliegt wiederum für eine andere Fluggesellschaft, hauptsächlich Langstrecken. Das Hobbyfliegen hat er vor einigen Jahren aufgegeben, «der Papierkram wurde zu aufwendig».
Das Fliegen habe ihm deshalb in den vergangenen Monaten schon gefehlt, wie er sagt. Doch das sei nicht der einzige Aspekt seines Jobs, den er vermisst habe. Die Zusammenarbeit im Team, der Austausch– alles fiel plötzlich weg.
An jenem Müllabfuhrtag im Mai sei es seine Frau gewesen, die gemeint habe, er soll sich bei einer Entsorgungsfirma melden und fragen, ob er einen Tag mitfahren und sich so seinen Bubentraum erfüllen dürfe.
Der Bubentraum ist tatsächlich Wahrheit geworden – und nicht nur das: Bei der Autogesellschaft Sissach-Eptingen konnte Schmied nicht nur einen Tag lang mitfahren, er arbeitet seither als Aushilfe in der Müllabfuhr. Mittlerweile arbeite er rund zehn Tage pro Monat, mal sammelt er Säcke ein und wirft sie in den Wagen – «Man lernt viel über die Gesellschaft, wenn man sieht, was da alles reinkommt», sagt er lachend –, und mal fährt er den Lastwagen. Die Arbeit habe denn auch viele Gemeinsamkeiten mit derjenigen eines Piloten: «Man arbeitet bei beiden Jobs mit grossen Maschinen und in einem Team, das sich jederzeit aufeinander verlassen können muss.» Wie auch im Cockpit muss Schmied im Lastwagen mit dem Kopf bei der Sache sein.
Die Arbeit sei zudem, so wie auch die Langstreckenflüge, körperlich anstrengend. «Ich mache viel Sport», sagt Schmied, «aber nach den ersten Arbeitstagen habe auch ich sehr gut geschlafen.» Ein Vorteil, den er im Müllsammeln sieht: Er ist den ganzen Tag draussen und lernt die Dörfer, in denen er arbeitet, kennen. Es sei ausserdem schön, wenn er die Dankbarkeit der Einwohner spüre. So hätten er und seine Kollegen vor Weihnachten Schokolade, Guetzli oder Trinkgeld erhalten. «Und immer wieder sehen wir Kinder, die uns zuwinken.»
Kinder, deren Held er nun ist, so wie es früher die Müllmänner waren, die bei Schmieds Familie den Abfall eingesammelt haben. Nun, da er selber auf dem Lastwagen durch den Kanton surft, kann Schmied die Ansicht vieler zum Beruf noch weniger nachvollziehen. «Dieser Job ist unglaublich wichtig. Ich sehe jetzt selber, wie viel dahintersteckt», so Schmied.
Die Reise ende nur für die anderen mit dem Rausstellen des Mülls – für ihn geht sie dort erst los. «Als ich zum ersten Mal gesehen habe, wie der Inhalt unseres Wagens auf die Mülldeponie geleert wurde, konnte ich es kaum glauben», erzählt er. Die acht bis neun Tonnen, die in einem Müllwagen Platz haben, hätten auf dem riesigen Abfallberg nicht einmal einen Unterschied gemacht.
Doch wie geht es wohl weiter, wenn die Pandemie vorbei ist und Schmied den grossen Lastwagen wieder gegen die Boeing 777 eintauschen muss? «Ich bin noch immer zu 100 Prozent als Pilot angestellt und werde auch wieder fliegen, sobald es geht», sagt er. Er hoffe jedoch, dass er auch dann noch ab und zu bei der Müllabfuhr mithelfen kann. Denn ganz aufgeben will er den Bubentraum noch nicht.