Es ist eine steile Karriere, die dem schweizerisch-guatemaltekischen Doppelbürger Erwin Sperisen in Guatemala gelingt: Der Hüne mit rotem Bart, «El Vikingo», dient sich früh im Schatten einflussreicher Politiker vom Assistenten zum Stadtrat von Guatemala City hoch. Er ist 34 Jahre alt, als ihm Innenminister Carlos Vielmann, von dem behauptet wird, er hätte wenig Ahnung von Politik und gar keine von Sicherheit, den Posten als Chef der Policia Nacional Civil anbietet.
Sperisen übernimmt, ohne jegliche Erfahrung als Polizist, das Kommando über 20'000 Mann. Schon nach zwei Monaten im Amt werfen Menschenrechtsorganisationen dem Polizeichef vor, er habe bei der Räumung der «Finca Nueva Linda» Bauern ermorden lassen. Nachgewiesen wird Sperisen – berüchtigt, aber auch beliebt für seine Kompromisslosigkeit – nie etwas, einer der wenigen Anhaltspunkte liefert die Zahl der Mordrate Guatemalas: Sie soll im ersten Amtsjahr des Polizeichefs von 4500 auf über 5300 gestiegen sein.
Oktober 2005: In der Nähe der Hauptstadt brechen 19 Häftlinge aus dem Gefängnis «El Infiernito» aus. Nach Darstellung guatemaltekischer Menschenrechtsorganisationen und der Schweizerischen Gesellschaft für Völkerstrafrecht (TRIAL) starten Sperisen und andere hochrangige Vertreter des Sicherheitsapparates darauf die Operation «Gavilàn» («Sperber»), um die Ausbrecher zu fassen. Die beteiligten Polizisten hätten den Auftrag gehabt, die Ausbrecher gleich zu exekutieren. Mehrere Häftlinge werden gefasst, drei von ihnen umgebracht.
September 2006: Über 3000 Sicherheitskräfte dringen in die Haftanstalt «El Pavon» ein, um diese wieder unter staatliche Gewalt zu bringen. Zuvor war das Gefängnis während Jahren von den Insassen selbst verwaltet worden, das Personal achtete lediglich darauf, dass kein Häftling entwich. Der Sturm auf «El Pavon» endet blutig: Die sieben mutmasslichen Anführer unter den Gefangenen werden erst verhaftet und dann erschossen.
Zahlreiche Bilder und Videos, die der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG, siehe Box) vorliegen, dokumentieren den Ablauf der Ereignisse an jenem Septembertag. Erwin Sperisen und auch Carlos Vielmann sind beteiligt. Die Exekution sollen der Kommandant der Sondereinheit, Victor Rivera, und sein Stellvertreter, Javier Figueroa, geleitet haben.
Offiziell ist die Rede von einem Gefecht, rasch kommen aber Zweifel an dieser Darstellung auf. Die Aufnahmen der Polizei nämlich erzählen eine andere Geschichte: Jene von einem Tatort, der hinterher manipuliert worden sein könnte. Ausserdem belasten die Aussagen von Häftlingen Sperisen und Vielmann schwer. Der Verdacht steht im Raum, die Namen der zu tötenden Häftlinge sei bereits im Vorfeld festgelegt worden. Sperisen selbst soll bei einem Gefangenen gar den Abzug gedrückt haben.
Ein halbes Jahr nach dem Sturm auf das Gefängnis wird es eng für «El Vikingo»: Als ein neuer Präsident an die Macht kommt, verlieren Vielmann und Sperisen ihre Posten. Der Auslöser ist ein Skandal um den Mord an drei Parlamentariern aus dem Nachbarland El Salvador. Die drei waren in Guatemala City mit Waffen der Kriminalpolizei erschossen worden, ihre Leichen wiesen Folterspuren auf. Vier als mutmassliche Täter inhaftierte Polizisten werden im Gefängnis umgebracht – Verdachten auf Anordnung von oben.
Im April 2007 setzt sich Sperisen nach Genf ab, Vielmann nach Spanien, Figueroa nach Österreich.
Kaum in Genf, heften sich mehrere Genfer NGO unter der Federführung der Schweizerischen Gesellschaft für Völkerstrafreicht (TRIAL) an Sperisens Fersen. Sie spielen den Behörden Informationen zu und üben Druck auf die Genfer Staatsanwaltschaft aus. Eine erste Anzeige gegen Sperisen wird Anfang 2008 eingereicht. Darin geht es um den Fall auf der «Finca Nueva Linda».
Doch die Staatsanwaltschaft handelt nicht. Die entscheidende Phase setzt erst im Sommer 2010 ein: Nach Untersuchungen der UNO erlässt die guatemaltekische Justiz im August 2010 in Sachen «El Infiernito» und «El Pavon» internationale Haftbefehle gegen 19 ehemalige Funktionäre der Regierung Berger, darunter neben Vielmann und Figueroa auch Sperisen. Figueroa wird 2011 in Österreich verhaftet, jedoch mangels Beweisen wieder freigelassen.
Am 31. August 2012 wird Erwin Sperisen in Genf festgenommen. Weil er auch die schweizerische Staatsbürgerschaft hat, kann er nicht nach Guatemala ausgeliefert werden. Seine Untersuchungshaft wird mehrmals verlängert – wegen Fluchtgefahr. Nun muss sich der ehemalige Polizeichef, der jegliche Schuld von sich weist, vor Gericht verantworten.
Staatsanwalt Yves Barossa, dessen Auswechslung Sperisen mehrmals wegen Befangenheit gefordert hatte, wirft dem ehemaligen Polizeichef vor, die Morde an zehn Gefangenen entweder befohlen, geplant oder selber begangen zu haben. Es drohen mindestens zehn Jahre Freiheitsstrafe. Sperisens Verteidiger plädiert auf Freispruch.
Zwei Wochen soll der Prozess gegen Erwin Sperisen dauern, 18 Zeugen sind eingeladen. Davon wird vor allem einer mit Spannung erwartet – ein alter Freund von «El Vikingo»: Javier Figueroa.