Die Stadt Baar richtet einen festlichen Empfang für den neuen Bundesrat Martin Pfister aus. An einem Tisch im hinteren Teil der grossen Sporthalle sitzt der Politgeograf Michael Hermann. Warum ist er da? Wieso besucht er die Wahlfeier des Mitte-Politikers?
Michael Hermann analysiert die politischen Entwicklungen in der Schweiz, er schreibt Kolumnen, tritt im Fernsehen auf, trägt Daten zusammen, macht Meinungsumfragen, er berät Parteien und andere Organisationen. Hermann ist inzwischen im ganzen Land bekannt – aber warum reist er am 20. März nach Baar?
Hermann war von Martin Pfister persönlich eingeladen worden. Die beiden kennen sich seit Jahren. Und der Politexperte trug dazu bei, dass sich Pfister überhaupt meldete als Kandidat für den Bundesrat.
Die erste Begegnung geht zurück auf das Jahr 2019. Pfister lud das Kader seiner Gesundheitsdirektion zu einer Retraite in ein Hotel auf der Rigi ein. Pfister wollte unter anderem die beiden Jahre als Landammann, als Zuger Regierungspräsident, vorbereiten. Michael Hermann hielt als Gast ein Referat. Thema: Wie verhindert der Kanton Zug, dass er Opfer seines eigenen Erfolges wird? Wie kann er weiter prosperieren, ohne dass sich die sogenannt einfachen Leute abgehängt fühlen?
Nach der Retraite trafen sich Pfister und Hermann oft an Anlässen. Sie tauschten sich über politische Themen aus und wechselten vom Sie zum Du. Im vergangenen Winter sassen sie beim Aser nebeneinander. Der Aser ist ein Traditionsanlass von CH Media: Angestellte des Medienunternehmens und geladene Gäste treffen sich am ersten Samstag im Dezember bei beträchtlicher Kälte in einer Waldlichtung bei Baden und verpflegen sich auf rustikale Weise.
Fünfeinhalb Wochen später kündigte Bundesrätin Viola Amherd ihren Rücktritt an. Die Mitte-Partei schlitterte in ein Problem. Mögliche Anwärter auf ihre Nachfolge erklärten ihr Desinteresse, einer nach dem anderen. Michael Hermann war skeptisch, als er las, dass Martin Pfister eine Kandidatur prüfe. Die Vernetzung des Zuger Regierungsrates in Bundesbern schien ihm zu schwach verglichen mit Amtskollegen wie dem Aargauer Markus Dieth, dem Stadtbasler Lukas Engelberger, dem Walliser Christophe Darbellay.
Keiner der drei Regierungsräte stieg aber ins Rennen. Einen Tag vor dem Ablauf der Meldefrist hatte einzig Nationalrat Markus Ritter seine Kandidatur angekündigt. Der Präsident der Mitte, Gerhard Pfister, besuchte Regierungsrat Pfister in dessen Haus im Baarer Ortsteil Allenwinden. Pfister versuchte, seinen Namensvetter zu einer Kandidatur zu bewegen. Es wäre eine Schlappe für die Mitte gewesen, hätte sie dem Bundesparlament nur einen Bewerber präsentieren können.
Am Sonntag, 2. Februar, wies Martin Pfister alle Medienanfragen ab. Michael Hermann hatte inzwischen seine Ansicht geändert: Er sah einen Pfad für Pfisters Kandidatur. Dafür gab es zwei Gründe. Der bis dahin einzige Anwärter, Markus Ritter, war zwar bekannt und gut vernetzt in National- und Ständerat, er hatte jedoch auch viele Gegner im Parlament.
«Ausserdem hatte Martin Pfister die passende Erzählung, um Ritter herauszufordern», sagt Hermann. Die ging so: Die Schweizer Regierung sollte nicht noch konservativer werden – sie müsse im Gleichgewicht bleiben. «Pfister eignete sich perfekt als Gegenkandidat zu Ritter: Stadt gegen Land, Oberst gegen Gefreiter, Kanton mit grosser Wertschöpfung gegen Subventionen für die Landwirtschaft, in der Haltung zur EU aufgeschlossen statt skeptisch. Und vor allem: Konsens statt Polarisierung.»
Hermann schrieb Pfister ein Mail. Am Sonntagabend rief Pfister Hermann an. Der Politologe stellte fest, dass der Regierungsrat seinen definitiven Entscheid noch nicht getroffen hatte. Zwar sei sein Interesse offensichtlich gewesen, und Pfister habe bereits eine Kampagne vorbereitet. Aber es gab ein grosses Fragezeichen. «Er wollte in jedem Fall ein respektables Wahlresultat erreichen, er wollte nicht als Alibikandidat enden. Darum zögerte er.»
Es folgte ein längeres Gespräch, in dem Hermann Pfister die beiden Faktoren darlegte, die nach seiner Einschätzung gegen eine Schmach sprachen: der breite Widerstand im Parlament gegen Ritter und «Pfisters perfekte Erzählung». Am folgenden Montagmorgen teilte die Zuger Mitte-Partei der Findungskommission mit, dass Martin Pfister Bundesrat werden wolle.
Am 12. März wurde Pfister zum 123. Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft gewählt. «Es hat mich beeindruckt, wie überlegt und konsequent er ans Werk ging, um die Parlamentarier von sich zu überzeugen. Ich selbst hatte ihn wegen seiner zurückhaltenden Art lange unterschätzt», sagt Hermann. Für seine Kampagne hatte Pfister die Beraterin Bettina Mutter engagiert.
Nun ist Pfister daran, wichtige Positionen in seinem Departement zu besetzen. Wie man hört, berät ihn dabei der vormalige Bundeskanzler Walter Thurnherr. Er gehört der Mitte an und kennt sich nach wie vor aus in Bundesbern.
Dass Pfister jetzt im Machtzentrum der Schweizer Politik seine Equipe zusammenstellt – das hängt auch mit einer Verbindung zusammen, von der niemand wusste. Der ausserhalb von Zug unbekannte Regierungsrat pflegte einen Austausch mit dem bekanntesten Politexperten des Landes. (aargauerzeitung.ch)