Simonetta Sommaruga wusste wohl genau, dass sie auf verlorenem Posten stand, als sie am Montag vor den Medien die Nein-Parole des Bundesrats zur Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» vertrat. Das beginnt schon beim Titel des Volksbegehrens: Wer kann ernsthaft gegen diese Forderung sein?
Justizministerin Sommaruga betonte, dass die Forderung nach einem automatischen Berufsverbot für Pädosexuelle das Gebot der Verhältnismässigkeit verletze. Doch die Prognosen sprechen für sich: Laut einer Umfrage des SonntagsBlicks wollen 81,6 Prozent der Befragten am 18. Mai mit Ja stimmen. Kaum jemand will deshalb aktiv gegen die Initiative antreten und sich an ihr die Finger verbrennen. Aus folgenden Gründen:
Sexuelle Übergriffe gegen Kinder sind eines der schlimmsten Vergehen überhaupt. Und ein hoch emotionales Thema. Wer gegen die Initiative antritt, gerät automatisch in den Verdacht, er wolle Pädokriminelle schützen, nicht aber deren Opfer. Diese Erfahrung musste im letzten September die grüne Nationalratspräsidentin Maya Graf machen.
Mit ihrem Stichentscheid empfahl die grosse Kammer des Parlaments die Pädophilen-Initiative zur Ablehnung. In der Folge sah sich die Baselbieterin mit einem Shitstorm konfrontiert. Via Mail und in den Sozialen Netzwerken wurden Graf und sogar ihre Kinder beschimpft. Deshalb wollte keine Partei den Lead bei der Nein-Kampagne übernehmen.
Erst in den letzten Tagen sprang der Ausserrhoder FDP-Nationalrat Andrea Caroni in die Bresche, er formierte ein Nein-Komitee, dem sich immerhin 102 Bundesparlamentarier aus allen Lagern ausser der SVP angeschlossen haben. Doch Caroni macht sich keine Illusionen über die Erfolgsaussichten.
«Wenn wir untergehen, dann mit der Fahne der Rechtsstaatlichkeit in der Hand», betonte Andrea Caroni gegenüber der Neuen Luzerner Zeitung. Beeindrucken dürfte er damit nur wenige, denn in den letzten Jahren wurden wiederholt rechtsstaatlich heikle Vorlagen angenommen: Die Verwahrungs-, die Unverjährbarkeits-, die Minarett- oder die Ausschaffungs-Initiative. Stets siegten die Ängste über juristische Bedenken.
Die bürgerliche Mitte hat daraus ihre Schlüsse gezogen. Sie hat letzte Woche im Nationalrat beschlossen, die Ausschaffungs-Initiative wortgetreu im Sinn der SVP umzusetzen. Dies mit dem Hintergedanken, dass die Gerichte die rechtsstaatlich unhaltbaren Elemente nachträglich korrigieren werden. Ein glaubwürdiger Einsatz für den Rechtsstaat wird damit schwierig. Auch Caroni stimmte letzte Woche mit der Mehrheit.
Das Parlament hat letztes Jahr eine Gesetzesänderung verabschiedet, die sogar weiter geht als die Initiative. Sie betrifft nicht nur Sexualstraftaten, sondern generell Verbrechen und Vergehen an Minderjährigen oder anderen schutzbedürftigen Personen. Vorgesehen sind ein zehnjähriges Berufsverbot bei schweren sexuellen Übergriffen, das auf lebenslang ausgedehnt werden kann, ausserdem Kontakt- oder Rayonverbote. Ein spezieller Strafregisterauszug soll Arbeitgebern und Freizeitorganisationen die Kontrolle in solchen Fällen erleichtern.
Die Initiative sei deshalb unnötig, sagte Bundesrätin Sommaruga am Montag. Allerdings handelt es sich um einen indirekten Gegenvorschlag, der nicht vors Volk kommt. Dadurch ist er nicht leicht zu vermitteln. Wie schwer es ein vernünftiger Gegenvorschlag haben kann, zeigt die Erfahrung mit der Ausschaffungs-Initiative. Gegen Emotionen ist mit Vernunft häufig nicht beizukommen. Das dürfte im aktuellen Fall erst recht gelten.
Ein Argument, das nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Die Initiative ist ziemlich offen formuliert, sodass Spielraum bei der Umsetzung vorliegt. Theoretisch wäre auch ein 19-Jähriger betroffen, der mit einer 15-Jährigen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hat. Er wäre der Unzucht mit einer Minderjährigen schuldig und dürfte zeitlebens nie mehr mit Kindern arbeiten.
Doch selbst die Initianten der Vereinigung Marche Blanche wollen es nicht so weit kommen lassen. Sie verweisen auf das Ausführungsgesetz, in dem entsprechende Ausnahmen festgehalten werden können. Gelingt dies, dann bleiben wohl nur die wirklich schlimmen «Kinderschänder», mit denen niemand Mitleid hat.
Und sonst bleibt die Hoffnung auf die Gerichte, ähnlich wie bei der Ausschaffungs- oder der Verwahrungs-Initiative: In der Praxis werden kaum lebenslängliche Verwahrungen ausgesprochen.
Am 18. Mai wird neben der Pädophilen-Initiative auch über die Beschaffung des Kampfjets Gripen sowie über die Mindestlohn-Initiative abgestimmt. Beide Vorlagen sind laut Umfragen umstritten, bereits heute liefern sie viel Diskussionsstoff. Die mediale Beachtung wird sich darauf konzentrieren. Ein Grund mehr für die Politikerinnen und Politiker, sich gar nicht erst auf die ungeliebte Pädo-Initiative einzulassen – sie können damit nur verlieren.