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Ignazio Cassis: Der einsamste Bundesrat

Gefangen im Amt: Ignazio Cassis ist der einsamste Bundesrat seit langem

Ignazio Cassis hat die Gespräche mit der EU wieder in Schwung gebracht und soll nun ein Verhandlungsmandat ausarbeiten. Das ist ein Erfolg. Doch erreicht ist nichts – der grosse Kampf steht erst bevor. Wer wird dem einsamen Aussenminister dabei zur Seite stehen?
09.11.2023, 10:01
Stefan Bühler / ch media
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Es ist wohl sein wichtigster Erfolg seit der Ukraine-Konferenz, als er kurz nach Kriegsausbruch in Lugano die westlichen Regierungen zum Krisengipfel empfing: Aussenminister Ignazio Cassis kann die Sondierungsgespräche mit der EU offiziell abschliessen und erhält vom Bundesrat den Auftrag, ein Verhandlungsmandat für ein neues Vertragspaket auszuarbeiten – die Bilateralen III.

Bundesrat Ignazio Cassis trifft den Tessiner Staatsrat Raffaele De Rosa am Montag, 25. September 2023 im Palazzo delle Orsoline in Bellinzona. (KEYSTONE/Ti-Press /Alessandro Crinari)
Braucht für den Kampf über neue bilaterale Verträge rasch tragfähige Allianzen: Aussenminister Ignazio Cassis. (Archivbild)Bild: keystone

Eineinhalb Jahre nachdem der Gesamtbundesrat das Rahmenabkommen versenkt hat, liefert Cassis: Die neuen Verhandlungen mit Brüssel sind aufgegleist, der Rahmen für die künftigen Verträge präzise abgesteckt.

Zugegeben: Der Auftrag, ein Mandat auszuhandeln, ist ein Mini-Schritt. Aber in der schweizerischen Europapolitik, wo wie beim Mikado jedes kleinste Zittern über Sieg und Niederlage entscheiden kann, ist schon das ein grosser Sprung. Denn diesmal ist klar: Steigt die Regierung in Verhandlungen mit Brüssel ein, ist der Prozess unumkehrbar. Einen Abbruch wie beim Rahmenvertrag kann sich der Bundesrat nicht mehr leisten, der Schaden wäre zu gross. Das könnte bloss das Volk in einer Abstimmung.

Wird der heutige Fortschritt für Cassis also zum Befreiungsschlag? Zweifel sind angebracht. Der Tessiner Freisinnige ist der einsamste Bundesrat seit langem. Im EDA hat er den Zugang zu den selbstbewussten Diplomaten auch nach sechs Jahren nicht gefunden. Umgeben von einem engen Kreis von Beraterinnen und Beratern, ist er kein Departementschef zum Anfassen. Er ist fremd im eigenen Haus.

Auch im Bundesrat gehört er nicht zu den Taktgebern. Das hängt mit seiner Positionierung zusammen. Zu Mitte-links hält Cassis seit je Distanz, es mangelt gegenseitig an Vertrauen. Mit Parteikollegin Karin Keller-Sutter gilt ein Burgfrieden, ein verschworenes Team sind die beiden aber nicht.

Politisch steht er den SVP-Vertretern nahe, Albert Rösti und Guy Parmelin. Bloss: In seinem wichtigsten Dossier, der Europapolitik, verfolgen die SVP-Magistraten diametral andere Ziele als Cassis. Von einer institutionellen Annäherung an die EU wollen sie nichts wissen. Trotzdem ist er von ihnen abhängig: Parmelin obliegt als Wirtschaftsminister der Dialog mit den Sozialpartnern über den Lohnschutz. In Röstis Bereich fallen das Stromabkommen und die von der EU geforderte Liberalisierung des internationalen Bahnverkehrs. Die beiden erfüllen zwar ihre Pflicht, stehen jedoch permanent unter dem Druck ihrer SVP, nicht nachzugeben. Grosse Unterstützung für sein EU-Paket kann Cassis von ihnen nicht erwarten.

Es fehlt ihm an tragfähigen Allianzen. Das ist eine schlechte Ausgangslage für die anstehenden Herausforderungen. Denn wiewohl Cassis jetzt einen Zwischenerfolg verbucht, der grosse Sturm steht erst bevor: Wenn das neue Vertragspaket dereinst fertig auf dem Tisch liegt, gilt es, die ausgehandelten Kompromisse im Parlament und letztlich in einer Volksabstimmung durchzubringen – mitsamt ungeliebten EU-Richtern und dynamischer Rechtsübernahme. Gegen den fundamentalen Widerstand der SVP. Und womöglich gegen die Gewerkschaften, die den bisher abgesteckten Verhandlungsrahmen am Montag als völlig unzureichend zerzausten.

Keinem wird so wenig Respekt entgegengebracht wie Cassis

Nützlich wäre für diese Auseinandersetzungen ein tragfähiges Netz mit wichtigen Parlamentarierinnen und Parlamentariern anderer Parteien – namentlich von Mitte-links. Denn zusammen mit diesen werden Cassis und seine FDP das EU-Vertragspaket verteidigen müssen. Doch auch im Ratssaal steht der Aussenminister auf einsamem Posten.

Das zeigte sich gerade in den letzten Tagen wieder einmal – in der Debatte über eine UNO-Resolution in Nahost. In Absprache mit Cassis stimmte die Schweiz in der UNO-Generalversammlung der Resolution zu, obwohl darin jeglicher Hinweis auf die mörderische Terrorattacke der Hamas auf wehrlose Menschen in Israel, unter ihnen Babys, unerwähnt blieb. Es folgte ein Sturm der Entrüstung in der Schweiz: Wenigstens enthalten hätte sich der Bund können, wie etwa Deutschland.

Mitte-Präsident Gerhard Pfister forderte via Twitter eine neue Schweizer Aussenpolitik. Und in der Sonntagszeitung befand Nationalrat Franz Grüter, Präsident der Aussenpolitischen Kommission (APK), Cassis wäre im Innendepartement, das nach dem Rücktritt von Alain Berset frei wird, besser aufgehoben als im EDA. Der Entscheid zur UNO-Resolution sei «konzeptlos und nicht nachvollziehbar». In der APK wurde Cassis hart kritisiert, und selbst im Bundesrat musste er sich erklären.

Die Debatte über die Resolution zeigt allerdings auch, wie ungerecht Cassis mitunter angegangen wird. Manche Kritiker brachten den Entscheid in Zusammenhang mit dem Schweizer Einsitz im UNO-Sicherheitsrat, was sachlich komplett falsch ist. Und gerne wurde übersehen, dass die Schweiz in New York in ihrer Erklärung den Terrorangriff der Hamas zum wiederholten Mal aufs Schärfste verurteilte. Dass die Schweiz zustimmte, begründete Cassis mit der katastrophalen Lage in Gaza: Es brauche «humanitäre Feuerpausen», wie sie die Resolution fordere – doch seine Erklärung kam mehrere Tage zu spät.

Harsche Kritik und väterliche Ratschläge, wo und wie es Cassis besser machen könnte: Keinem Mitglied des Bundesrats wird so wenig Respekt entgegengebracht wie Ignazio Cassis. Und so stellen sich zwei Fragen. Erstens: Wie stehen die Aussichten des FDP-Bundesrats, im Dezember bei der Bundesratswahl im Amt bestätigt zu werden? Und zweitens: Bleibt er im Aussendepartement?

Die Antwort auf die erste Frage: Trotz des Angriffs der Grünen mit Bundesratskandidat Gerhard Andrey stehen Cassis' Chancen auf Wiederwahl gut. Seine FDP steht sowieso hinter ihm, und auch aus der SVP gibt es bisher keine anderweitigen Signale. Die SP wird den Grünen Andrey nur halbherzig unterstützen, zu gross ist die Gefahr von Retourkutschen, wenn es in späteren Wahlgängen um ihre Sitze geht.

Warum die Mitte auf den Angriff verzichtet

Ändern könnte die Kräfteverhältnisse nur die Mitte-Partei von Gerhard Pfister: Mit einem Deal mit GLP sowie Grünen und SP könnte sie genug Stimmen zusammenbringen, um der FDP den Cassis-Sitz abzujagen. Warum aber greift sie nicht an? Offiziell gilt in der ehemaligen CVP Pfisters Dogma: keine Abwahl von Bisherigen. Das ist staatstragend und hilft dabei, die Mitte als konstruktive Kraft im Zentrum zu positionieren. Vielleicht ist das Dogma aber auch dem Umstand geschuldet, dass die Mitte-Fraktion die Abwahl Cassis' wohl kaum geschlossen unterstützen würde. Ihre Ständeräte verfolgen gerne ihre eigene Agenda. Und die Bauern um Bauernpräsident Markus Ritter sind weiterhin interessiert an einer guten Zusammenarbeit mit ihren Standeskollegen aus FDP und SVP – eine Attacke bei den Bundesratswahlen könnte diesem Bündnis Schaden zufügen.

Zur zweiten Frage: Dass Ignazio Cassis, der ehemalige Präventivmediziner, das Aussendepartement verlässt und ins freie Innendepartement wechselt, ist aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Hätte er das gewollt, hätte er diesen Schritt schon vor einem Jahr machen können, als im Bundesrat die grosse Rochade über die Bühne ging. Es bräuchte nun einen gemeinsamen Angriff von SVP und FDP, um der SP das Innendepartement mit der Gesundheits- und Sozialpolitik zu entreissen. Einzelne FDP-Exponenten in den Kantonen würden ein Departementswechsel als Chance sehen. Auch weil sich die Partei mit Gesundheits- oder Sozialversicherungsthemen profilieren könnte.

FDP-Präsident Thierry Burkart sagt, was Parteichefs zum Thema immer sagen: «Die Departementsverteilung ist Sache des Bundesrats.» Er habe darauf keinen Einfluss, gehe aber nicht davon aus, dass Ignazio Cassis ausgerechnet jetzt das Departement wechseln wolle: «Er hat nun jahrelang das EU-Dossier vorangetrieben und hat vertiefte Kenntnisse. Ein Handwechsel des Dossiers wäre nicht im Interesse eines für die Schweiz positiven Verhandlungsergebnisses.»

Behält Burkart recht, bleibt Cassis gefangen in seinem Amt und reitet als Aussenminister in den Europasturm. Gegen die SVP, gegen Blocher und dessen Kampfverbände. Skeptisch beobachtet von Bundesratskollegen, Parlament, Verbänden, Gewerkschaften und Parteien – alle stets bereit, sich abzuwenden, sollte sich das Unterfangen als zu schwierig erweisen. Als lonely Cowboy der Schweizer Politik. (aargauerzeitung.ch)

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Reaktionen der Deutschschweizer Presse auf die Cassis-Wahl
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Reaktionen der Deutschschweizer Presse auf die Cassis-Wahl
Für die «Neue Zürcher Zeitung» ist Cassis eine kluge Wahl. Sie zeige, dass die Mehrheit des Parlaments die Verfassung ernst nimmt.
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Wie ein Popstar gefeiert – Neuer Bundesrat im Tessin
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88 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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wasps
09.11.2023 10:11registriert Januar 2022
Er hat das Europadossier jahrelang vorwärtsgetrieben? Wohl eher hat er es versenkt!
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Gurgelhals
09.11.2023 10:15registriert Mai 2015
Cassis ist überhaupt nicht "gefangen im Amt". Er liegt ihm jederzeit frei den einzigen vernünftigen Schritt zu wagen, nämlich: Sich endlich einsichtig zeigen, dass er nicht im Stande ist die Anforderungen zu erfüllen, die man im Amt eines Bundesrates zumindest in Grundzügen erfüllen können sollte, und aus eigenen Stücken zurück zu treten. Aber wahrscheinlich ist er auch dafür letztlich ein zu kleiner Mann.
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Allkreis
09.11.2023 10:35registriert Januar 2020
Ich glaube das, was ihm als Schwäche zugeschrieben wird, ist in Wahrheit die Schwäche des Bundesrates als Ganzes. Der Rahmenvertrag wurde damals wahrscheinlich von SVP (neoliberale rechtspopulistisch nationalistische Isolation, bzw. alle Ausländer sind unwillkommene Idioten, ausser die Superreichen) und SP (druck der Gewerkschaften) Bundesräten versenkt. Allerdings sind sicher auch einige der neoliberalen FDP Leute insgeheim gegen einen Rahmenvertrag, denn gewisse Firmen sahnen ohne nennenswerte Konkurrenz aus der EU schamlos und unbehelligt ab. Das Volk hat den Stillstand gewählt.
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