Wer in der grössten Krise des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg regiert, steht unter immensem Druck. Die Coronapandemie verlangt den Bundesräten viel ab.
«Der Arbeitsaufwand hat mich an meine physischen Grenzen gebracht», lässt sich Gesundheitsminister Alain Berset im Buch «Lockdown» zitieren. Die Leitung eines derart grossen Departements, sagt der SP-Bundesrat, sei für ihn herausfordernd.
Die Pandemie und ihre Folgen erfordern derzeit fast die volle Aufmerksamkeit – für Strategisches bleibt den sieben Bundesräten kaum noch Zeit. Auch deswegen sorgen sich jene, die einmal selbst dem Gremium angehört haben, um grundsätzliche Fragen. Welche Folgen hat Corona für die Landesregierung als solche? Ist sie in Krisenzeiten der Situation noch gewachsen? Und vielleicht steht er nun an: Der richtige Moment, um den Bundesrat umzubauen.
Die Exekutive sei nicht mehr zeitgemäss organisiert, findet alt Bundesrätin Doris Leuthard, gerade mit Blick auf die Coronakrise. Zwar weiss die CVP-Vertreterin, die von 2006 bis 2018 in der Regierung sass, nur zu gut: «Leider sind bis heute praktisch alle Ideen für eine Staatsleitungsreform gescheitert.» Trotzdem könnte jetzt der richtige Zeitpunkt sein, darüber nachzudenken. Gegenüber der Redaktion von CH Media skizziert Leuthard ihr Ideal:
Eine Reform sollte laut der früheren Magistratin beim Bundespräsidium beginnen. Es ist heute ein Amt ohne spezifische Kompetenzen. «Ein Präsidialjahr ist zwar schön», betont Leuthard. Müsse man daneben aber ein grösseres Departement führen, sei dies sehr anspruchsvoll. «Erst recht, wenn man noch eine Krise zu bewältigen hat.»
Leuthard denkt dabei auch über die Landesgrenzen hinaus. Wegen der jährlichen Wechsel kenne kaum jemand die hiesige Regierung, sagt sie. «Bleibt jemand lange im Amt und tritt auf der internationalen Bühne regelmässig in Erscheinung, geht das noch. Aber für eine effektive Interessenvertretung der Schweiz reicht es nicht mehr.»
Die Idee eines längeren Bundespräsidiums war nie mehrheitsfähig. Leuthard schlägt darum einen eigentlichen Führungsausschuss im Bundesrat vor: Ein Trio, das wichtige Geschäfte vorbereitet, Sitzungen managt und bei Krisen zuständig ist.
In dieser Spitze vertreten wären der amtierende Bundespräsident, dessen Vorgänger und der Vizepräsident. «Das gäbe nach aussen wie innen eine gewisse Kontinuität, längere Sichtbarkeit, und man kann mehr Erfahrungen sammeln und weitergeben», so Leuthard.
Sieben Bundesräte können nicht das Gleiche leisten wie die 15 oder 17 Minister anderer Länder. Zumal die Regierung als Strategieorgan wirken soll. Bei der operativen Arbeit müsse sie entlastet werden, findet Leuthard. Sie würde es begrüssen, wenn jedes Departement fest eine Staatssekretärin oder einen Staatssekretär bekommt. Als höchstrangige Beamten werden diese heute vor allem dort eingesetzt, wo es um diplomatische Beziehungen und völkerrechtliche Verträge geht.
Ferner stellt Leuthard fest: «Das Parlament ist anspruchsvoll und verlangt oft die Präsenz eines Bundesrates.» Gerade in Krisen müsse man die zuständigen Kommissionen gut einbinden. Daneben jedoch könnte der Bundesrat entlastet werden durch eine «bessere Priorisierung seiner Auftritte in den Kommissionen». Diese sollten sich auf das Eintreten auf eine Vorlage sowie wichtige, umstrittene Punkte oder Differenzen beschränken. Vermehrt könnten Amtsdirektoren und Sachbearbeiter einspringen. Umso wichtiger sei es im Gegenzug, dass der Bundesrat bei seinen wichtigen Vorhaben die zuständigen Gremien des Parlaments frühzeitig einbinde.
Im Sommer gab der Bundesrat das Krisenmanagement und die kommunikative Führung ab. Bald wuchs der Unmut über zögerliche, unkoordinierte Kantone. Es folgten Kompetenzstreitigkeiten mit dem Bund. Schliesslich rief gar Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga dazu auf, dieses «Gstürm» zu beenden. Muss der Bundesrat die Zügel künftig noch fester in der Hand haben? Für Doris Leuthard ist klar: «Krisen müssen immer zentral begleitet werden.» Zum einen sei dies schneller und effizienter, zum anderen ermögliche es eine schweizweite, glaubwürdige Kommunikation.
Handlungsbedarf ortet die alt Bundesrätin auch bei der politischen Begleitung in Krisen. Im Frühjahr waren das Parlament und die Parteien während Wochen faktisch selbst im Lockdown, der Bundesrat reagierte mit Notrecht durch. Leuthard plädiert dafür, bei wichtigen Weichenstellungen ein bestehendes Gefäss konsequent zu nutzen: die Von-Wattenwyl-Gespräche zwischen den Regierungsmitgliedern und den Spitzen ihrer Parteien. In einem vertraulichen Umfeld könne man so «rascher und auf kurzen Wegen Sitzungen abhalten, Informationen austauschen und Meinungen einholen». Schliesslich trügen gerade die Bundesratsparteien eine Verantwortung.
Skeptisch sieht Leuthard hingegen die Idee, den Bundesrat auf neun Mitglieder aufzustocken. Das sei bislang ebenfalls nie mehrheitsfähig gewesen, erinnert sie. «Ich habe auch meine Zweifel, weil das eine starke Führung bedingt. Dies ist in unserem Kollegialsystem nicht vorgesehen.»
Soeben preschte ein anderer alt Bundesrat wieder mit der Idee vor. Im Hinblick auf die Coronapandemie sagte Adolf Ogi (SVP) gegenüber Radio SRF: «Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass es überlastete Regierungsmitglieder gibt.» Nach der Krise sei eine Staatsleitungsreform angebracht. Es müsse geprüft werden, ob der Bundesrat weiterhin sieben Mitglieder haben soll.
Interessant wäre eine Aufstockung freilich auch aus Gründen des Parteiproporzes. So würde ein neunköpfiger Bundesrat mehr Möglichkeiten eröffnen, um auch den erstarkten Grünen einen Sitz zuzuschanzen.
Nicht zum ersten Mal stellt sich die Frage, ob das Regierungssystem noch zeitgemäss ist. Entsprechende Staatsleitungsreformen scheiterten jeweils bereits im Parlament, zuletzt just in der Ära von Doris Leuthard. Doch die Coronakrise könnte auch hier ungeahnten Schub verleihen.
Solange ein bürgerlich dominiertes Parlament ihre Aufgabe immer noch als Werkzeug zur Durchsetzung ihrer politischen Ideologie und ihrer Lobbyinteressen sieht, wird sich in diesem Land nichts ändern.