Heute Mittwoch trifft sich der Bundesrat erstmals seit sechs Wochen wieder zu einer Sitzung. Das Hauptthema: Wie weiter in der Coronapolitik. «Wir werden eine Auslegeordnung machen: Wo stehen wir epidemiologisch, wo stehen die Nachbarländer? Welche Schritte sind richtig?», sagt FDP-Bundesrat Iganzio Cassis im Gespräch mit CH Media.
«Es herrscht etwas Vorsicht zurzeit», betont der frühere Tessiner Kantonsarzt mit Blick auf die schnelle Ausbreitung der Delta-Variante. Angesprochen auf die jüngste Infektionszahl vom Dienstag – mit 1910 neuen Coronafällen war sie die höchste seit Monaten – sagt Cassis: «Die Zahl der Neuinfektionen ist gar nicht so wichtig. Entscheidend sind die Hospitalisationen und die Belegung der Intensivstationen.» Hier lägen die Zahlen in der Schweiz zurzeit auf «sehr, sehr tiefem Niveau».
Die Ungewissheit bleibe aber gross, auch deshalb, weil die eine Hälfte der Bevölkerung «leider noch nicht geimpft ist», sagt Cassis. Dass die Impfquote tiefer ist als in fast allen anderen westeuropäischen Ländern, erklärt er mit dem politischen System: «Wir können den Menschen nicht befehlen, sich impfen zu lassen, sondern müssen sie überzeugen und an die Vernunft appellieren.» Das dauere länger, doch dieser Weg habe sich bewährt.
Nebst Überzeugungsarbeit und Aufklärung plädiert Cassis auch für sanfte Anreize. Wer sich impfen lasse, schütze sich selber, leiste aber auch einen Beitrag dafür, dass das Land als Ganzes wieder mehr Freiheit bekomme. Darum sei es richtig, dafür mit mehr Freiheiten belohnt zu werden. Wer sich nicht impfen lasse, «diesen Beitrag also nicht leistet, der kann auch nicht die volle Freiheit haben», sagt Cassis im Interview mit den Fernsehsendern dieses Verlags.
Er denkt dabei an eine mögliche Ausweitung der Zertifikatspflicht. Davor schreckt aber sein Kollege, Gesundheitsminister Alain Berset, zurück. Im Interview mit der «Sonntags-Zeitung» nannte er die Forderung nach einer Zertifikatspflicht für Restaurants und Fitnesscenter «bizarr».
Dem Vernehmen nach spielt bei dieser Haltung die Abstimmung zum Covid-19-Gesetz im November eine zentrale Rolle. Denn dort ist die rechtliche Basis für das Covid-Zertifikat, das aktuell bei Grossveranstaltungen und in Clubs zum Einsatz kommt, geregelt. Die Gegner des Gesetzes sollen keinen Auftrieb erhalten.
Uneinigkeit im Bundesrat herrscht auch in einem anderen Punkt: Cassis stellt die Gratis-Coronatests in Frage. «Sobald jeder Bürger die Möglichkeit hatte, sich impfen zu lassen, und dies nicht tut – weil er nicht will –, dann liegt es nicht mehr an der Allgemeinheit, seine Tests zu finanzieren.» Denn dann habe man eine freie Wahl getroffen und könne die Kosten für einen Test, etwa wenn man an ein Konzert gehe, nicht mehr dem Staat belasten.
Bundespräsident Parmelin äusserte sich ähnlich. Anders positioniert sich Berset. Er sagte: «Der Zugang zu den Tests muss so einfach wie möglich sein», deshalb würden auch die Kosten übernommen. Daran will Berset aktuell nichts ändern, schon gar nicht jetzt, wenn viele aus den Ferien zurückkehren.
Berset ist aber bereit, einen Schritt auf seine Kollegen zuzumachen. Gemäss gut informierten Quellen beantragt Berset, dass Selbsttests in der Apotheke nicht mehr gratis abgegeben werden sollen. Bis anhin konnten ungeimpfte Personen fünf Tests pro Monat kostenlos beziehen.
Mit diesem Schritt soll ein Anreiz zum Impfen gesetzt werden. Cassis schlägt dafür noch eine andere Massnahme vor: Die Menschen, insbesondere die vulnerablen, aktiv zu kontaktieren. Spanien und Grossbritannien konnten mit dieser Massnahme ihre Impfquote deutlich steigern.
Aussenminister Cassis blickt aber gar nicht primär ins Ausland, sondern in seine Heimat Tessin: «Wir haben das erfolgreich so gemacht.» Seine eigene Mutter, die 87-jährig ist, habe einen Brief des Kantonsarztes bekommen. «Das hat sie total überzeugt», sie habe sich impfen lassen, erzählt Cassis. (aargauerzeitung.ch)