Alain Berset traut dem Frieden nicht. «Die Situation in diesen Tagen ist unübersichtlich», sagte der Gesundheitsminister im Interview mit der «Sonntagszeitung». Die Delta-Variante und die Heimkehrer aus den Ferien würden das Risiko von Ansteckungen in der Schweiz erhöhen. Es wäre dumm, «die letzten milden Einschränkungen leichtfertig aufzuheben».
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Damit gab Berset für die erste Bundesratssitzung nach der Sommerpause am Mittwoch die Richtung vor: Weitere Lockerungen sind nicht zu erwarten. Dabei dürfte die Situation vor einem Jahr eine Rolle spielen. Damals liess der Bundesrat trotz steigender Fallzahlen Grossveranstaltungen zu. Prompt schlitterte die Schweiz in eine massive zweite Welle.
Nun hat man erneut das Gefühl, dass sich eine gewisse Sorglosigkeit breit macht. Ein Indikator ist die stark nachlassende Impfbereitschaft. Sie beschert der Schweiz die tiefste Impfquote im westlichen Europa. Das widerspricht unserer «Siebesiech»-Mentalität, dem verbreiteten Gefühl, wir würden ohnehin alles besser machen als die anderen.
Sie könnte uns teuer zu stehen kommen. Wie aber ist die generelle Corona-Lage? Ist Delta wirklich schlimm oder wird krass übertrieben? Wenn man sich weder den Schwurblern und Leugnern noch den Alarmisten zugehörig fühlt, muss man erkennen: Die Zeiten sind vorbei, in denen es einen einheitlichen und klaren Trend gab. Heute herrscht Verwirrung.
Beispiel Israel: Der «Impfweltmeister» ist wegen Delta mit einer vierten Corona-Welle konfrontiert. Fallzahlen und Hospitalisierungen steigen an. Beunruhigend sind vor allem die Impfdurchbrüche. Auch vollständig geimpfte Personen landen im Spital. Die Regierung hat deshalb für Menschen über 60 eine dritte Dosis angeordnet, also eine Booster-Impfung.
Für Alarmisten ist klar, dass dies auch uns bevorsteht. Bloss: Wie erklären sie sich die Lage in Grossbritannien? Auch das Königreich hat früh und schnell geimpft. Am 19. Juli wurde zudem in England der «Freedom Day» zelebriert, das Ende praktisch aller Massnahmen. Die Zahl der Neuinfektionen aber hat nicht etwa zu-, sondern deutlich abgenommen.
Dieser Trend wurde in den letzten Tagen gestoppt. Die befürchtete Katastrophe nach dem «Freedom Day» aber ist ausgeblieben, auch bei den Hospitalisierungen und Todesfällen. Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Niederlanden, wo die Fallzahlen ab Mitte Juli wegen Partys und Festivals explosionsartig anstiegen und ebenso schnell wieder sanken.
Ein Blick über Europa hinaus sorgt ebenso wenig für klare Verhältnisse. So ist auch in den USA die nächste Welle ausgebrochen. Allerdings trifft sie vor allem Bundesstaaten im Süden, in denen viele Trump-Wähler und Impfgegner leben, etwa Louisiana und Florida. Dort werden vor allem jüngere und ungeimpfte Menschen auf den Intensivstationen eingeliefert.
Für Schlagzeilen sorgte am Wochenende der Fall des Radio- und Fernsehmoderators Dick Farrell. Der glühende Trump-Anhänger wetterte unter anderem auf dem rechtsradikalen TV-Kanal Newsmax gegen die Corona-Impfungen. Dann starb der 65-Jährige selbst an Covid-19. Vor seinem Tod forderte er seine Freunde auf, sich impfen zu lassen.
Für Stress sorgt Delta auch in jenen Ländern Asiens und Ozeaniens, die auf eine No-Covid-Strategie gesetzt haben. Die australische Metropole Sydney steckt seit Wochen im Lockdown und meldet trotzdem neue Rekordzahlen bei den Infektionen. China wiederum bangt um seinen Ruf, die Pandemie besser gemeistert zu haben als der «unfähige» Westen.
Wie also soll man mit diesen widersprüchlichen Signalen umgehen? Ein paar Vermutungen drängen sich auf.
Es ist möglich, dass der Impfschutz bei Risikopersonen (ältere und jene mit geschwächtem Immunsystem) relativ rasch abnimmt. Für sie könnte eine Booster-Impfung empfehlenswert sein, aber kaum für die breite Bevölkerung. Sie wäre sogar ausgesprochen fragwürdig, so lange weite Teile der Weltbevölkerung noch gar kein Impfangebot erhalten haben.
Unter dem Strich lässt sich festhalten: Die aktuelle Corona-Konfusion ist kein Grund zur Panik. Aber auch kein Grund zur Sorglosigkeit. Denn erst im Herbst werden wir wirklich wissen, woran wir sind. Bis dann sollten wir vorsichtig bleiben und gleichzeitig den Schutz der ungeimpften Kinder priorisieren, etwa mit CO2-Messgeräten in allen Klassenzimmern.
Und vor allem gilt es, das Impftempo anzukurbeln. In einem ersten Schritt sollte dies durch Motivation geschehen, zum Beispiel mit persönlichen Gesprächen. Auch Benefits sind eine Option. Falls dies nicht reicht, kann man weitere Massnahmen erwägen, etwa ein Ende oder eine Limitierung der Gratistests und eine Ausweitung der Zertifikatspflicht.
Die Impfung ist besser als die Krankheit, man kann es nicht genug betonen. Man muss dazu nicht einmal das Long-Covid-Schreckgespenst beschwören. Je höher die Quote, umso eher werden wir uns «von einer pandemischen in eine endemische Lage bewegen», wie der Epidemiologe Andrew Hayward vom University College London dem «Guardian» sagte.
Konkret bedeutet dies, dass es «nur» noch zu örtlich begrenzten Ausbrüchen von Sars-Cov-2 kommen wird. Es wäre die Fortsetzung des Trends, der in den letzten Wochen zu beobachten war. Denn eines müsste inzwischen auch klar sein: Dieses Virus wird nicht verschwinden. Je eher wir das einsehen, umso besser werden wir damit leben können.
Die Impfung wirkt.
Schwere Verläufe bei Geimpften / Spitaleinweisungen sind äussert selten.
Wer sich nun gegen eine Impfung entscheidet, tut dies in vollem Bewusstsein der möglichen, gesundheitlichen Konsequenzen. Dies gilt es als Gesellschaft zu akzeptieren, solange sich keine Überlastung der Spitäler abzeichnet (was klar nicht der Fall ist).
Der Staat muss endlich aus seiner Babysitter-Rolle rauskommen. Sämtliche Maßnahmen sind aufzuheben. Einige Impfgegner müssen es leider auf die harte Tour lernen, dass nur die Impfung wirksam vor einer Spitaleinweisung schützt.