Jeden Abend dreht der Vater mit seinem Sohn auf dem verwaisten Schulhausplatz ein paar Runden mit dem Fahrrad. Nachmittags packt ihn die Mutter in den Veloanhänger und pedalt zu einer verlassener Wiese oder einem Wald, wo sie keiner Seele begegnen. «Wir haben uns gefühlt wie Schwerverbrecher», sagen die Eltern des 5-Jährigen.
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Mitte Oktober schickten ihn die Behörden zehn Tage in Quarantäne, weil sich seine Kindergärtnerin mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Eigentlich hätte der Kleine – er zeigte während dieser Zeit nie Symptome – die Stadtwohnung mit Kleinstbalkon und ohne Garten überhaupt nicht verlassen dürfen.
Gemäss den Anweisungen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) hätte er sich in ein Zimmer bei geschlossener Tür abschotten und dort alleine essen müssen. Dieses strikte Regime muteten ihm die Eltern nicht zu.
Sie sind nicht die einzigen, die mit dem Dilemma Regelbruch versus Kindswohl konfrontiert sind. Nachrichten von Kindergärten und Schulklassen in Quarantäne häufen sich. Die betroffenen Kinder sollten gemäss BAG möglichst wenig Kontakt zu Geschwistern und Eltern haben.
Immerhin: Vor kurzem hat das BAG die Quarantänevorschriften gelockert. Seit dem 23. Oktober dürfen Kinder für kurze Zeit nach draussen («kurze Frischluftepisoden») – selbstverständlich ohne Kontakt zu Personen ausserhalb der Familie.
Mini-Spaziergänge mit Mami oder Papi sind also nicht mehr verboten. Das BAG anerkennt zudem offiziell: Die Bedürfnisse insbesondere von kleinen Kindern sind zu berücksichtigen.
Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz, begrüsst diese Schritte. Kinderschutz Schweiz hat bei BAG in einem Brief moniert, die Vorgaben seien weder praktikabel noch mit dem Kindswohl vereinbar.
Bernhard Hug verlangt weitere Anpassungen – zum Beispiel die Erlaubnis für «längere Frischluftepisoden». «Ein ‹Durchatmen› im Freien würde sicher helfen, Konflikten und häuslicher Gewalt vorzubeugen.» Auch für Bernhard Hug ist klar, dass sich die Kinder während der Quarantäne aber nicht auf Spielplätzen vergnügen sollen.
Wird ein Kind positiv getestet, muss es sich in Isolation begeben. Das BAG schreibt dazu bloss, die Massnahmen zur Isolation müssten je nach Alter individuell angepasst werden.
«Kleinkinder können nicht nachvollziehen, dass man sie wie Aussätzige behandelt und nicht mehr auf die Knie nimmt», sagt Bernhard Hug. Sie verlangt auch hier Nachbesserungen. Und: «Man kann nicht einfach einem 10-Jährigen das Essen vor die Zimmertür stellen und ihn sich selber überlassen. Auch kranke Primarschulkinder brauchen körperliche Nähe und Fürsorge für ihr Wohlbefinden.»
Bei Kinderschutz Schweiz melden sich regelmässig verunsicherte Eltern, weil klare Quarantäne-Anweisungen ausbleiben – und sie stattdessen irritierende «Tipps» erhalten. «Es kam schon vor, dass ein Contact-Tracer den Eltern geraten hat, dem Kind einen Computer ins Zimmer zu stellen, damit es die Zeit in Isolation mit Gamen totschlägt», sagt Bernhard Hug.
«Das darf nicht sein. Wer weiss, in was für Foren die Kinder plötzlich landen.» Sie fordert die Vereinigung der Kantonsärzte auf, die Contact-Tracer für die Problematik von Kindern in Quarantäne zu sensibilisieren.
Auch aus dem Parlament erheben sich Stimmen zugunsten der Kinderrechte. Die Aargauer CVP-Nationalrätin Marianne Binder weist darauf hin, dass Kinder gemäss der UNO-Kinderrechtskonvention auch in Zeiten der Covid-Pandemie gelten und das Recht auf Bildung, Freizeit und Spiel garantieren.
«Es ist weder zumutbar noch realistisch, Kinder unter sechs Jahren zu isolieren. Weder für die Kinder, noch für die Eltern», sagt Binder. «Nota bene auch dann, wenn sie völlig gesund sind.» In einer Interpellation will die CVP-Politikerin wissen: Was der unternimmt der Bund, damit die Quarantänepraxis den kinderpsychologischen Minimalkriterien entspricht?
Nationalrätin Irène Kälin (Grüne, AG) stösst ins gleiche Horn.
Kälin vermisst bei den Quarantäneregeln die Verhältnismässigkeit. Sie möchte Kinder bis sechs Jahre ganz von der Quarantäne befreien und schlägt in einem Vorstoss weitere Differenzierungen für Kinder bis zwölf Jahre vor.
Lässt sich eine Art Quarantäne light für Kinder aus epidemiologischer Sicht verantworten? Erst vor wenigen Tagen sorgte ein Coronaausbruch in zwei Kindergärten in Kärnten für Schlagzeilen. Christoph Berger ist Leiter der Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Kinderspital Zürich. Der Professor plädiert für Lockerungen. Er stützt seine Position auf Studien aus Australien, Irland, Schottland und den USA. «Sie zeigen, dass Kinder kaum andere Kinder und Lehrer anstecken, wenn sie sich an die gängigen Abstands- und Hygieneregeln halten.»
Kinder erkranken zudem sehr selten nach einer Infektion. «Sie übertragen das Virus deshalb auch viel weniger auf Erwachsene. Und wenn Kinder unter sich bleiben, passiert ihnen nichts.»
Berger wirkt als Co-Autor an der Studie «Ciao Corona» des Instituts für Epidemiologie an der Universität Zürich mit. Erste Resultate liegen bereits vor. Bei 2500 Schülerinnen und Schüler testeten die Forscher, ob sie sich seit Auftreten des neuen Coronavirus und Anfang Juni damit angesteckt haben. 2,8 Prozent wiesen Antikörper auf.
Dieser Wert war zwar ähnlich hoch wie bei zufällig ausgewählten Erwachsenen in dieser Region. Bei Kindern sind aber die Symptome unspezifisch und nicht schwer. «Kinder mit oder ohne Nachweis von Sars-Cov-2 Antikörpern haben zum Beispiel gleich viel oder wenig gehustet», sagt Berger.
Zudem gibt es starke Hinweise, dass die Kinder das Virus kaum von Alterskollegen in der Schulklasse aufschnappten, sondern vor allem von Erwachsenen im privaten Umfeld. 67 von 100 Klassen waren ganz coronafrei, in 29 gab es ein Kind mit Antikörpern und somit keine Ansteckung in der Klasse, in drei Klassen zwei und nur in einer drei.
Wo sich diese Kinder infiziert haben, wissen die Forscher nicht. Für Berger stützen diese Befunde von «Ciao Corona» den berühmten Satz von Ex-Mistercorona Daniel Koch: «Die Kinder sind nicht die Treiber der Pandemie.»
Berger schwebt vor: Während der ganzen Quarantäne sollen Kinder ohne Einschränkungen die Natur geniessen dürfen, wenn sie Kontakte mit Personen ausserhalb der eigenen Familie meiden.
Wenn Kinder ihren natürlichen Bewegungsdrang nicht ausleben könnten, berge dies grosse Probleme. «Dann findet das Wettrennen um den Küchentisch statt und gehüpft wird auf dem Sofa.» Während der Quarantäne alles zu erlauben, fände Berger aber falsch: «Es ist nicht Zeit für Kinderparty.»
Er schlägt vor, die Quarantäne für Kinder auf fünf Tage zu verkürzen, wenn sie asymptomatisch sind.