Fünf Wochen nach der Erkrankung sass der Aarauer Regierungsrat Urs Hofmann im Fernsehstudio des Lokalsenders und sagte, die Unterarme auf den Tisch gestützt: «Ich bin noch nicht so, wie ich mich kenne. Ich schlafe viel.»
Er sei nicht sicher, was noch in ihm drin sei und was noch rausmüsse. Er schwitze nachts oft. Der Regierungsrat war Ende März an Corona erkrankt und hätte beinahe beatmet werden müssen.
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Je mehr Leute die Krankheit durchgemacht haben, desto öfter hört man von extrem langer Erholungszeit. Ein Teil dieser Fälle ist womöglich auf das Post-Intensivstations-Syndrom zurückzuführen: Das sind die geistigen, körperlichen oder psychischen Schäden, die durch eine schwere Krankheit währen der Intensivpflege entstehen.
Doch manche der nun elend Müden waren nicht mal im Spital. Die Erkrankung der Engländerin Sara Edwards, über die BBC letzte Woche berichtete, liegt zehn Wochen zurück. Die 26-Jährige ging davor fünfmal pro Woche joggen. «Aber jetzt ist es schon nur mühsam, Treppen zu steigen, Haare zu kämmen oder wenn ich mich bücke, um die Socken anzuziehen», sagt sie. «Es ist eine Müdigkeit, wie ich sie noch nie erlebt habe.»
Andere berichten, wie sie sich besser fühlen, aber sobald sie aktiv sind, zurückgeworfen werden. Das Alter scheint dabei keine Rolle zu spielen.
Der 48-jährige Marc Halter aus Baden war einer der ersten Corona-Patienten in der Deutschschweiz. Anfang März hatte er erste Symptome, bald darauf lag er im Kantonsspital Baden acht Tage lang im künstlichen Koma.
Seit drei Monaten ist er wieder gesund und sagt, er habe keine Folgeschäden und auch nie mehr Atemnot. Wenn nur die Energie länger reichen würde: «Ich gehe zwar jeden Tag zweimal mit dem Hund raus», sagt Halter, «aber die Runden sind noch so kurz, dass sich der Hund langweilt.»
Arbeiten geht nicht. Dabei dachte der Primarlehrer im April noch, er werde spätestens im Juni zu seiner Klasse zurückkehren. Nun startet er nach den Sommerferien mit einem 20-Prozent-Pensum.
«Früher gab ich 12 bis 14 Stunden am Tag Vollgas», sagt er. Jetzt pfeift ihn sein Körper nach einer, maximal zwei Stunden zurück, und er muss mindestens eine halbe Stunde ruhen. Er sagt:
Im Spital wurde ihm gesagt: «Sie haben es geschafft.» Doch das war nur der erste Teil der Krankengeschichte.
Die bleierne Müdigkeit ist nicht nur nach Corona-Infektionen bekannt. Berüchtigt für hartnäckige Langzeitfolgen ist auch die Mononukleose, besser bekannt als Pfeiffersches Drüsenfieber. 2008 fiel Tennisstar Roger Federer deswegen mehrere Wochen aus. Andere sind monatelang müde, in sehr seltenen Fällen bleibt der «Akku» jahrelang kaputt.
Jürg H. Beer, Chefarzt am Departement Innere Medizin des Kantonspitals Baden, hat Marc Halter behandelt. Er sagt: «Jede virale Erkrankung kann grundsätzlich eine sogenannte Fatigue machen. Auch nach einer Grippe fühlen sich viele noch wochenlang extrem müde. Das ist nicht aussergewöhnlich.»
Doch nun kristallisiere sich heraus, dass ungefähr einer von zehn Covid-19-Patienten eine solch bleierne Müdigkeit entwickle. «Das ist meist die Folge der Entzündungsreaktion, kann aber auch andere Ursachen haben. Bei der Coronaerkrankung treten Lungenembolien und Thrombosen gehäuft auf. Deshalb muss der Hausarzt dies überwachen.»
Infektionen im Kindesalter – egal ob es das Eppstein-Barr-Virus ist wie beim Pfeifferschen Drüsenfieber oder das Corona-Virus – verlaufen meist mild und heilen gut aus. Doch das erwachsene Immunsystem braucht länger, bis die Abwehrzellen lernen, mit einem neuen Erreger umzugehen: Nachdem der Körper die Infektion erkannt hat, treten T-Lymphozyten, auch Killerzellen genannt, in Aktion.
Wenn diese die Infektion nicht unter Kontrolle bringen, bleibt die Aktivierung der anderen Killerzellen, der Makrophagen, erhalten. Diese sorgen nicht nur am Anfang der Infektion dafür, dass sich T-Zellen vermehren, sie verursachen auch Entzündungen, um das Virus besser zerstören zu können. Spezielle Proteine, die Zytokine, regulieren die Produktion der Makrophagen. Doch wenn der Körper des Virus nicht Herr wird, entgleist die Regulierung, es kommt zu einem Zytokin-Sturm.
Diese Überproduktion von Makrophagen schadet nicht nur dem Virus, sondern auch den Gefässen des Körpers. Bei Covid-19 entstehen überall Entzündungen in Organen, und Gewebe wird zerstört. Dabei ist im Blut das Virus längst nicht mehr nachweisbar.
Immunologe Christian Münz vom Institut für Experimentelle Immunologie der Universität Zürich erklärt das so: «Auch wenn das Corona-Virus nicht mehr nachweisbar ist, konnte es der Körper vermutlich nicht vollständig eliminieren. Oder aber die fortgeschrittene Gewebezerstörung hält die Entzündung am Laufen.»
Die bleierne Müdigkeit entsteht wegen dieser Entzündungen, die immer wieder irgendwo im Körper aufflammen. Eine solche autoentzündliche Erkrankung ist mit einer Autoimmunkrankheit vergleichbar. Aber irgendwann schafft es der Körper doch noch, das Immunsystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen, und die Krankheit wird im Unterschied zu Autoimmunerkrankungen nicht chronisch.
Viel tun kann man nicht. Korrekt essen und genügend schlafen helfe, sagt Jürg H. Beer, und manchmal nützten medikamentöse Entzündungshemmer.
Die Entzündungen könnten auch erklären, warum Personen mit solchen Langzeit-Folgen manchmal Depressionen entwickeln: Die Entzündungen finden wie bei der Autoimmunkrankheit Rheuma oft auch im Gehirn statt. Ungeklärt ist noch, ob das Virus im Nachhinein andere Krankheiten auslösen kann an Lunge, Herz oder Gehirn.
Marc Halter traf zum Glück keine Depression. Kaum aus dem Koma erwacht, wollte er heim zur Familie. Später telefonierte er viel. «Ich bin ein kommunikativer Mensch und konnte das so verarbeiten», sagt er. «Ich bin dankbar, dass ich noch hier bin.»
Langsam, aber stetig geht es aufwärts. Eineinhalb Stunden Autofahren bis ins Ferienhaus im Emmental, das klappt. Seine Klasse hat er zwei Mal besucht. Es habe ihn mit Energie aufgeladen, als die Kinder ihn begrüsst hätten. Am Fest im Quartier vor einer Woche blieb er zwei Stunden und ging dann ermattet heim. Er geht einkaufen, mäht die Wiese so lange, wie er kann, und sagt, es sei wichtig, etwas zu tun.
Nebst seiner Krankheits-Geschichte gibt es sehr viele, die längst nichts mehr vom Virus spüren. Peter Buri, der sich als Aargauer Regierungsratssprecher wie Hofmann in der Verwaltung angesteckt hatte, erkrankte zwar ebenfalls schwer, doch er sagt: «Ich bin besser zwäg als vorher.» Er hat Gewicht verloren und treibt mehr Sport.
Und es gibt die traurigen Geschichten. Jene des Patienten am Unispital Zürich, der am längsten auf der Intensivstation war: 84 Tage lang. Vor drei Wochen konnte der 65-Jährige das Spital endlich verlassen und wurde zur Rehabilitation nach Nottwil verlegt. Der Zeitung wollte er seine Geschichte erzählen, weil ihm wichtig war, dass die Leute erfahren, was das Corona-Virus anrichten kann.
Doch dazu kam es nicht, er starb vor einer Woche, nachdem es ihm ein paar Tage wieder schlechter gegangen war. Seine Lebenspartnerin sagt: «Es war ein langer Weg, den er hinter sich hatte. Dann reichte wohl ein Windstoss, um das Gebäude zum Einsturz zu bringen.»
Er habe lange gekämpft, aber der Körper habe anders entschieden. Sie sagt auch: «Die Intensivstation ist ein guter Ort, um zu überleben, er hat die beste und aufopfernde Behandlung bekommen, die zu haben war. Aber sein Leben wäre nun ein anderes gewesen. Das Virus hatte genug Zeit, um ausser der Lunge noch andere Organe zu schädigen.»
Die Lebenspartnerin wohnt die meiste Zeit in Deutschland und sagt: «Ich war überrascht, wie unbekümmert die Leute in Zürich miteinander umgehen. Es ist hier, als hätte es Corona nie gegeben.»
Sowas wünsche ich niemandem.