Heute wird gelockert: Wie erfolgreich war der Schweizer Coronaweg wirklich?
In zwei Wochen geht die Fussball-Europameisterschaft los. Ist die Schweiz jetzt schon Europameister, was die Bewältigung der Pandemie betrifft? Einiges spricht dafür. Heute macht sie grosse Lockerungsschritte, und auch in anderen europäischen Ländern kehrt die Normalität langsam zurück.
In allen Ländern sind die Zahlen der Infektionen sowie der Coronatoten deutlich zurückgegangen. Diese Entspannung ist den laufenden Impfkampagnen zu verdanken, in denen zuerst die verletzlichen, älteren Risikopersonen geimpft worden sind, die über 90 Prozent der Coronatoten ausmachen.
Die Härte der getroffenen Schutzmassnahmen war in den verschiedenen europäischen Ländern während der Pandemie völlig unterschiedlich. In unseren Nachbarländern wie auch in Grossbritannien waren sie viel einschneidender: Ausgangs- und Rayonsperren und die monatelange Schliessung der Schulen gehörten dazu. Die Schweiz wählte einen pragmatischeren Weg und ist damit gut gefahren. Der Basler Epidemiologe Marcel Tanner sagt dazu:
In der Schweiz ist man einen eher riskanteren Weg gegangen als in den Nachbarländern. Die Schweiz hat trotzdem keine höhere Sterblichkeit produziert.
Deutschland hat die Schulen lange geschlossen gehalten
In Deutschland war die präzise Infektionskontrolle prioritär. Die Härte der Massnahmen hat sich exakt nach den Inzidenzzahlen gerichtet. Die Schweiz verfolgte eine andere Strategie, nach der primär das Gesundheitssystem nicht überlastet werden durfte und gleichzeitig das soziale Gewebe in der Schweiz nicht stark unterbunden wurde.
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Die Schulen blieben in der zweiten und dritten Welle offen. Zwar hat sich gezeigt, dass Kinder bei der Verbreitung von Corona eine Rolle spielen. Das Recht auf Bildung wurde aber hoch gewichtet.
Zudem herrschte die Einsicht, dass Bildungsrückstande nur schwer wieder aufgeholt und nicht kompensiert werden können. «Stärker betroffen ist dabei vor allem der schwächere Teil der Gesellschaft», sagt das ehemalige Taskforce-Mitglied Tanner. Diese Diskussion wird nun in Deutschland nach monatelangen Schulschliessungen hart geführt.
Deutschland: In Bayern fiel der Präsenzunterricht an 131 Tagen komplett aus. In ganz Deutschland schwankt diese Zahl stark von Landkreis zu Landkreis.
Italien: In Rom fielen 153 Präsenz-Schultage der Pandemie zum Opfer. In Italien gibt es grosse regionale Unterschiede: In Neapel etwa fielen während der zweiten Welle noch mehr Tage aus als in der Hauptstadt.
Schweden: Die Schulen in Schweden waren an 82 regulären Schultagen dicht.
Österreich: In Österreich waren die Schulen streng genommen nicht geschlossen, eine Betreuung war die ganze Zeit über vorhanden. Präsenzunterricht fiel dennoch lange aus – an einer normalen Volksschule in Wien an 126 Tagen.
Frankreich: An Primarschulen in Frankreich gilt die Viertagewoche. 10 Wochen waren die Schulen 2020 dicht. Macht zusammen: 40 Schultage. 2021 waren die Schulen in Frankreich offen.
England: In England waren die Schulen seit Beginn der Pandemie an mindestens 150 Tagen geschlossen.
Die Schweiz habe der Bevölkerung immer Perspektiven aufgezeigt, sagt Tanner. Wie auch Schweden habe die Schweiz eine Risiko-Benefit-Abwägung gemacht, die sich nicht nur nach den nackten Infektionszahlen richtete, sondern auch die gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anliegen berücksichtigte. So zielten beispielsweise auch die Vorwürfe aus dem Ausland wegen der offenen Skigebiete ins Leere.
Die Schweiz habe immer versucht, den Menschen Perspektiven zu geben und sie mit ihrer Güterabwägung hinter die Schutzmassnahmen zu bringen. Das sei nicht bei allen Teilen der Bevölkerung gelungen, bei einer deutlichen Mehrheit aber schon.
Zwar führte die Schliessung der Restaurants auch in der Schweiz zu Diskussionen. Diese sei aber verständlich gewesen, weil in der ersten Welle die Dimension der Ansteckung durch Aerosole noch unterschätzt worden sei. Deshalb habe es restriktivere Massnahmen in diesem Jahr in geschlossenen Räumen gebraucht. In den anderen Ländern blieben die Restaurants sowieso geschlossen.
In Schweden gab es vorwiegend Empfehlungen
Auch im Vergleich mit dem liberalen Schweden ist die Schweiz im Vorteil. In Schweden basierte die Strategie auf Empfehlungen statt auf Verordnungen. Letztere gab es zwar auch, zum Beispiel mit der Begrenzung der Versammlungsgrösse auf 50 Personen. Das Meiste wurde aber ohne Verbote geregelt.
Das Problem der Empfehlungen ist, dass die Bereitschaft, sich freiwillig danach zu richten, mit der Zeit erlahmt. Schweden hat jetzt noch deutlich höhere Infektionszahlen als die anderen europäischen Länder.
In einer speziellen Lage befand sich Grossbritannien. Wegen der britischen Mutante sind die Infektionszahlen gleich mit dem Beginn der Impfkampagne nach oben geschnellt. Das stimulierte die Briten dazu, noch rascher zu impfen.
Mit dem eigenen Impfstoff Astrazeneca sind die Briten Europameister im Impfen geworden, ein Drittel der Bevölkerung ist bereits vollständig geimpft. «Den Effekt der Impfung hat man gerade in Grossbritannien schnell gesehen – trotz der Komplikationen mit dem Auftreten der britischen und später auch der südafrikanischen und indischen Varianten, gegen welche der Impfstoff auch hilft» sagt Tanner.
Die harten Massnahmenpakete in einigen Ländern haben im Vergleich zur Schweiz nicht viel gebracht. Eher umgekehrt. Studien deuten darauf hin, dass in vielen dieser Länder die psychischen Störungen eher mehr zugenommen haben, weil Depressionen und Angstzustände gefördert wurden.
Für alle Länder gilt: Die Impfung war und ist der eindeutige Game-Changer. (aargauerzeitung.ch)
