Manche Begriffe kursierten an diesem historischen Sonntag, als das Schweizer Stimmvolk erstmals einer Volksinitiative für einen Ausbau des Sozialstaats zustimmte, und das nicht knapp, sondern deutlich. Von einer Zäsur war die Rede, einer Zeitenwende. Man könnte auch von einem Erdbeben sprechen, das lange nachhallen wird.
Bürgerliche und Wirtschaftsverbände hatten die Brisanz der 13. AHV-Rente unterschätzt. Sie glaubten, das Volk werde ihnen folgen, wie seit Anbeginn der direkten Demokratie, und verzichteten auf einen Gegenvorschlag. Umso perplexer waren sie, als das Ergebnis feststand. Kaum ein bürgerlicher Politiker liess sich beim Nein-Komitee blicken.
Dafür waren die Reaktionen anderweitig umso gehässiger. Den Tiefpunkt markierte die Stellungnahme des Gewerbeverbands, die auf eine Beschimpfung des Volkswillens hinauslief. Faktisch forderte der Verband eine Missachtung beider Volksentscheide: Für die 13. Rente soll es keine Zusatzfinanzierung und dafür ein höheres Rentenalter geben.
Wer sich als dermassen schlechter Verlierer aufführt, muss sich nicht wundern, wenn in Zukunft ähnliche Vorlagen eine Mehrheit finden. Wie aber konnte es dazu kommen, dass eine linke Volksinitiative eine derart klare Mehrheit finden konnte, nachdem vor acht Jahren die ähnlich gelagerte AHVplus-Initiative in einem fast identischen Ausmass gescheitert war?
Die Initianten legten den Fokus auf die Kaufkraft. Mit diesem Thema hatte die SP schon bei den Wahlen im letzten Oktober reüssiert. Die allgemeine Teuerung in Kombination mit den steigenden Wohnkosten und Krankenkassenprämien hat sicherlich einen Einfluss gehabt. Von rechts hingegen werden die Ausgaben für Asylwesen oder Entwicklungshilfe genannt.
Derartige Klagen hört man jedoch seit Jahrzehnten, sie sind ein Dauerbrenner im SVP-Segment. Gleichzeitig wollen die Bürgerlichen das Armeebudget verdoppeln, trotz einer angeblich leeren Bundeskasse. Auch die Bauern, die derzeit Protestaktionen durchführen, werden von Sparbemühungen verschont und erhalten im Zweifel mehr Geld.
Es gibt jedoch eine weitere Dimension. Im letztjährigen SRG-Wahlbarometer wurde nach dem aktuell grössten Ärgernis gefragt. In den Medien war viel von den Klimaklebern und der Gender-/Wokeness-Debatte die Rede. Höchstens am Rande wurde das grösste Ärgernis überhaupt erwähnt: das Debakel der Credit Suisse und die Bonus-Abzockerei.
Darin zeigen sich zwei Missstände: Eine abgehobene Manager-Elite fährt eine Grossbank gegen die Wand und macht sich mit ihren Boni über alle Berge. Und die Politik? Statt die CS mit dem dafür geschaffenen «Too big to fail»-Gesetz «abzuwickeln», organisiert der Bundesrat eine Fusion mit der UBS, abgefedert durch staatliche Garantien in Milliardenhöhe.
Vermengt man alle diese Punkte, so erstaunt es kaum, dass die «Normalverdiener» das Gefühl hatten: Jetzt sind wir an der Reihe! Und dieser Effekt könnte anhalten, denn mit der Pensionierung der Babyboomer-Jahrgänge könnte sich eine Dynamik beim Sozialausbau entwickeln, deren potenzielles Ausmass viele bis jetzt nicht erfasst haben.
Die Babyboomer sind eine grosse Bevölkerungsgruppe mit entsprechendem Einfluss. Bislang haben sie diesen kaum ausgespielt, weil sie die unterschiedlichsten Schattierungen und Lebensentwürfe verkörperten. Mit der Pensionierung aber erleben sie einen Einschnitt. Ihr Einkommen aus AHV und Pensionskasse ist meist deutlich kleiner als ihr letzter Lohn.
Eine Studie des VZ-Vermögenszentrums hat letztes Jahr ergeben, dass ein Mann mit einem Bruttolohn von 100’000 Franken nach einer Pensionierung mit 65 noch etwas mehr als die Hälfte erhalten wird. Wer einen entsprechenden Lebensstandard gewohnt ist, muss anfangen zu rechnen, besonders wenn fixe Ausgaben wie Hypothekarzinsen anfallen.
Das wird zur Herausforderung für die Babyboomer. Anders als die Generation ihrer Eltern, die Entbehrungen gekannt hatte und deshalb bereit war, sich auch im Alter einzuschränken, kennen die meisten von ihnen nur ein Leben im Wohlstand. Deshalb wächst die Versuchung, das Einkommen im Alter mit einer 13. AHV-Rente «aufzubessern».
Für die Gesellschaft ist dies eine Herausforderung. Die verwöhnten Babyboomer erheben Ansprüche, während die Jüngeren zunehmend das Gefühl haben, dass für sie im Alter nichts übrig bleiben wird. Die Tamedia-Nachbefragung zeigt folglich einen «Altersgraben»: Die unter 50-Jährigen sagten mehrheitlich Nein zum AHV-Ausbau, die Älteren waren klar dafür.
Und es könnte im gleichen Stil weitergehen. Am 9. Juni wird über zwei Volksinitiativen zur Gesundheitspolitik abgestimmt: die Kostenbremse der Mitte und die Prämienentlastung der SP. Sie will die Krankenkassenprämien bei zehn Prozent des verfügbaren Einkommens «deckeln». Und erneut scheinen Bürgerliche und Wirtschaft die Brisanz zu unterschätzen.
Der Abstimmungskampf wird nicht einfach, denn neben Pensionierten, deren Rente heute zu hoch ist für Verbilligungen, werden auch Jüngere profitieren, vor allem mittelständische Familien. Sie leiden oft stark unter den hohen Krankenkassenprämien. Weil die Politik die Gesundheitskosten nicht in den Griff bekommt, könnten sie der SP-Initiative zustimmen.
Im September dürfte mit der Revision der beruflichen Vorsorge (BVG) eine weitere Abstimmung zur Altersvorsorge folgen. Die Gewerkschaften gaben am Sonntag den Tarif durch: Sie werden die Rentenklau-Kampagne neu aufleben lassen, mit der sie bereits 2010 eine Pensionskassen-Reform mit Pauken und Trompeten zum Absturz gebracht hatten.
Dabei handelte es sich jedoch um eine reine Abbau-Vorlage. Die Bürgerlichen haben ihre Lektion gelernt. Sie federn die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent mit Kompensationen für die ersten 15 betroffenen Jahrgänge ab. Und sie ermöglichen es Menschen mit tiefen Löhnen, ein Pensionskassenkapital aufzubauen.
Der Abstimmungskampf wird dennoch kein Spaziergang für die Befürworter. Sollten die Ergebnisse zu diesen Vorlagen erneut im Sinne der Linken ausfallen, kann man von einer Zeitenwende sprechen. Solche «Nachbeben» hätten Folgen für den nationalen Zusammenhalt. Und das betrifft nicht nur das Verhältnis von Jung und Alt.
Nein, liebe Bürgerliche. Das hat genau 0 Rolle gespielt, dass es ein Ja zum Dreitehner gab.
Nehmt jetzt bitte die Notizblöcke hervor:
Für Bankenrettungen und ständige Steuersenkungen für Firmenkonglomerate stehen Abermilliarden bereit. Bei uns heisst es immer, geht nicht.
Ihr seid schlicht nicht mehr ernst zu nehmen. Ständig das Geflenne wegen der Wirtschaft, trotz Milliardengewinnen. Handkehrum die Brosamen für uns.
Nein, jetzt ist Schluss damit.
Und somit war es sicher auch ein Zeichen gehen weitere Umverteilung von unten nach oben.