Bart Simpson, der vielleicht berühmteste Lausbub der Fernsehgeschichte, muss seit den frühen 1990er-Jahren in jeder Folge einen Merksatz in Endlosschleife an die Wandtafel schreiben. Einmal lautet der Satz «Ich darf nicht in der Klasse rülpsen», ein anderes Mal «Ich darf nicht während der Schulstunde schlafen». Heute wird zwar noch immer ab und zu im Klassenzimmer gerülpst und manchmal geschlafen, die Wandtafel und die Schönschrift haben aber so gut wie ausgedient.
Durch die Digitalisierung des Unterrichts werden andere Prioritäten gesetzt. Beamer statt Tafel, Laptop statt Schönschreibheft. Das führt dazu, dass es Kindern schwerer fällt, von Hand zu schreiben. Eine grosse Umfrage unter Lehrern in Deutschland schreckte 2019 auf. Von «alarmierenden Ergebnissen» berichtete diese Zeitung. Kinder schrieben zu langsam, unleserlich und haben viel zu oft Krämpfe. Der damalige Lehrerpräsident Beat Zemp sagte, dass motorische Fähigkeiten im Unterricht zu kurz kämen und wieder gestärkt werden müssten.
Dann kam Corona. Die Pandemie gab der Digitalisierung einen weiteren Schub. 2022 stellt wiederum eine Studie aus Deutschland fest, dass insbesondere die Knaben Mühe mit dem Schreiben von Hand haben. Schon vor der Pandemie hatte fast die Hälfte der Jungen in Grund- und weiterführenden Schulen Probleme mit der Handschrift. Nun schreiben sie noch langsamer, unstrukturierter und unleserlicher, fasst Deutschlandfunk die Studie zusammen. Auch wenn die Ergebnisse noch schlechter sind, so klingt es unter Pädagogen weniger alarmistisch. Das Verkümmern der Handschrift gilt im Digitalzeitalter als normaler kultureller Wandel.
Diktate sind unter Lehrpersonen verpönt, weil sie Kinder zu sehr unter Druck setzen würden, schnell zu schreiben. «Ich mache ab und zu dennoch eines, natürlich ohne es zu bewerten», sagt ein Lehrer.
Ein anderer Lehrer sagt:
Ausserdem wären ohne Korrekturprogramm die Rechtschreibfehler und die falsch gesetzten Kommas so zahlreich, dass sie vom Inhalt des Textes ablenken würden.
Beat A. Schwendimann ist Leiter Pädagogik beim Schweizer Lehrerverband. Er sagt, dass der Erwerb der Handschrift nach wie vor ein Ziel des geltenden Lehrplan 21 ist. «Es wird aber für das Schönschreiben zugunsten anderer Fähigkeiten weniger Zeit investiert.» Das entspreche dem Zeitalter.
Wann immer man später im Berufsleben schreiben muss, tut man das zunehmend mit einer Tastatur. Und auch privat wird höchstens noch eine Postkarte oder ein Einkaufszettel von Hand geschrieben – wobei selbst diese letzten Anwendungsgebiete zusehends durch zahlreiche Apps digitalisiert werden.
Der Psychologe Rüdiger Maas findet diese Entwicklung fatal. Natürlich müsse man die Kinder auf die digitalisierte Welt vorbereiten, sagt er.
Das Digital-Dilemma heisst das dieser Tage erscheinende Buch, das er zusammen mit dem Psychologen Christian Montag und dem Pädagogen Klaus Zierer geschrieben hat. Es soll Lehrpersonen und Eltern als Leitfaden im Umgang mit digitalen Medien und Smartphone dienen.
Darin werden mehrere Argumente für die Handschrift aufgeführt. So hat eine Studie gezeigt, dass Studierende mit Laptop zwar mehr mitschreiben als solche, die dafür Stift und Papier nutzen. Allerdings zeigte sich auch, dass sich die Laptop-Studierenden das Protokollierte weniger gut merken konnten. Auch wer zum Notieren ein Tablet mit Stift nutzt, ist im Nachteil.
Der Grund dafür könnte sein, dass oft das Schreibfeld so gross gezogen wird, dass man den Bezug zu den anderen Notizen verliert, wohingegen man auf dem Papier rasch mit einem Pfeil oder einem Strich einen Querverweis zu anderen Inhalten ziehen kann. «Zusammenhänge zu erkennen, sich diese einzuprägen und den Gesamttext im Überblick zu behalten, funktioniert auf dem Papier besser als auf dem Bildschirm», folgern die Autoren.
Wenn das Schreiben von Hand so viele Vorteile hat, warum wird es dann marginalisiert? Rüdiger Maas, der das Institut für Generationenforschung in Augsburg leitet, sieht einen wichtigen Grund in der Prägung der Lehrpersonen. Jene, die heute zwischen 30 und 50 Jahre alt sind, haben das Schreiben noch von der Pike auf gelernt – inklusive Schönschreibheft – dann aber bald die Vorteile der digitalen Textverarbeitung kennen gelernt. Gemäss Maas sind sie damit optimal auf das Digitalzeitalter vorbereitet worden. «Sie vergessen aber den Wert ihrer analogen Herkunft und setzen bei ihren Schülern meist komplett auf das Digitale.»
Die Tafel, so sagt ein 40-jähriger Lehrer, benutze er nie – und kenne eigentlich auch keine Lehrperson, die das tut. «Ich finde es angenehmer, mit Beamer und Computer zu arbeiten, da hat man die Klasse immer vor sich und muss ihr nicht den Rücken zudrehen.» Ausserdem sei er sich nicht gewohnt, mit Kreide zu schreiben, und seine Schrift an der Wandtafel sei unleserlich. Ein anderer sagt, dass er sich auf die neuen E-Boards freue, auf denen man sowohl digital als auch analog arbeiten könne.
Der Mathematiklehrer, den unsereins noch in den Nullerjahren erlebt hat und der die Tafel exzessiv nutzte, gehört der Vergangenheit an. Während der Lektion schrieb er alle Tafeln mit Gleichungen voll, ergänzte sie mit Erläuterungen in vollständigen Sätzen und liess uns mitschreiben. Nach der Stunde liess er sie putzen – und beschriftete sie für die Parallelklasse noch einmal identisch. Er war überzeugt, dass die Vermittlung von Wissen dann am nachhaltigsten sei, wenn man sie aktiv anging.
Aufschlussreich dazu ist eine aktuelle Studie aus der Hirnforschung, die zeigt, dass beim Schreiben von Hand eine signifikant höhere Hirnaktivität vorherrscht als beim Tippen derselben Wörter. Dabei werden Hirnbereiche genutzt, die für die Gedächtnisbildung und Lernprozesse zentral sind. Das liegt daran, dass das Schreiben von Hand mehr Feinmotorik abverlangt als das Tippen, das auf monotoneren Bewegungen beruht. Beim Handschreiben müssen mehr als dreissig Muskeln und fünfzehn Gelenke koordiniert werden, was zwölf verschiedene Hirnareale beansprucht.
Doch ist die Neurologie der Weisheit letzter Schluss? Bevor die Menschheit mit Tinte auf Papier gekritzelt hat, schlug sie Schriftzeichen mit Meissel und Hammer in Stein. Auch wenn es dazu keine Untersuchungen gibt, ist es gut vorstellbar, dass dabei nicht nur mehr Muskeln und Gelenke in Anspruch genommen werden müssen, sondern auch mehr Hirnareale aktiv sind.
Dennoch kommt niemand auf die Idee, den Verlust dieser Kulturtechnik zu bedauern oder sie gar zu reaktivieren. Die Vorteile moderner Schreibtechniken sind einfach unschlagbar. So gibt es auch Untersuchungen, die zeigen, dass Texte, die Schülerinnen und Schüler mit dem Computer geschrieben haben, von höherer Qualität sind als solche, die von Hand verfasst worden sind.
Wer mit dem Computer schreibt, ist nicht nur schneller und verfügt auch über ein Korrekturprogramm, das Fehler ausmerzt, sondern kann auch mit Leichtigkeit Sätze umstellen, Absätze neu arrangieren und Wörter ersetzen. Der Schriftsteller Alex Capus, der sich einst für 8000 Franken seinen ersten Computer gekauft hat, kann sich nicht vorstellen, wie man mit der Schreibmaschine ein Buch zu Ende bringen kann.
Ohne die Erfindung des Computers würde er wohl noch immer am ersten Roman sitzen, gesteht er in der NZZ. Und zeigt sich umso beeindruckter von Schriftstellern aus dem Vor-Maschinellen-Textverarbeitungs-Zeitalter: «Keine Ahnung, wie Thomas Mann ohne Microsoft die ‹Buddenbrooks› geschafft hat.»
Wer mit Stift auf Papier schreibt, muss einen klaren Plan von jedem Satz haben, wissen, wie er endet, wenn er damit beginnt. Und wer in Stein meisselt, wird bestimmt auf jedes unnötige Adjektiv verzichten. Friedrich Nietzsche, einer der ersten Autoren, die eine Schreibmaschine nutzten, hielt fest: «Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.» Die Forschung will erkannt haben, dass sich sein Schreibstil tatsächlich verändert hat, als er nicht mehr mit Feder und Tinte übers Papier streifte, sondern in die Tasten hämmerte.
Heute entstehen fast alle längeren Texte am Computer. Einer der wenigen, die noch von Hand schreiben, ist der österreichische Nobelpreisträger Peter Handke, der seit den frühen 1990er-Jahren, also just dann, als die ersten Textverarbeitungsprogramme aufkamen, seine Texte nur noch mit dem Bleistift verfasst – weil es schön sei, wenn der Bleistift so schwingt. Eine andere Ausnahme ist die Jugendbuch-Bestsellerautorin Cornelia Funke, welche ihre Manuskripte ebenfalls von Hand verfasst. Man arbeite so wesentlich unzensierter als mit dem Computer. Der FAZ sagte sie: «Eine fliessende Handschrift bringt die Gedanken zum Fliegen.»
Wer von Hand schreibt, braucht Fähigkeiten, welche einem der Computer abnehmen kann. Der amerikanische Autor John Updike sorgte sich deshalb beim Aufkommen der Textverarbeitungsprogramme, dass das Schreiben nun allzu einfach werden würde. Und sein Berufskollege Gore Vidal glaubte, dass die Idee der Literatur von der Textverarbeitung erodiert werde.
Die Angst von damals wirkt heute ebenso unbegründet wie aktuell. Bietet doch die generative künstliche Intelligenz ganz neue Möglichkeiten der Textverarbeitung. Es reicht, wenn man ein paar Stichworte und einen Arbeitsauftrag eingibt, und schon schreiben ChatGPT und Co. eigenständig Texte, die nach Belieben weiter verarbeitet werden können.
Für die Schulen stellen sich da neue Fragen: Wie gut muss man überhaupt noch selber mit dem Computer schreiben können, wenn man schreiben lassen kann? Man müsse ja nicht einmal mehr unbedingt tippen, sagt der Pädagoge Beat Schwendimann. Man könne ja auch mit gesprochener Sprache mit den modernen Maschinen interagieren.«Ich kann mir durchaus vorstellen, dass im Lehrplan der Zukunft dem Erlernen des Zehnfingersystems zugunsten anderer Fähigkeiten weniger Bedeutung zukommen wird», sagt er.
Vielleicht wird die ursprüngliche Handschrift, die in gewissen analogen Situationen noch immer gefragt ist, das Tippen sogar überdauern. Die technologische Entwicklung macht es möglich. Diktieren statt selber schreiben. Das hat Johann Wolfgang von Goethe im frühen 19. Jahrhundert schon gemacht, als er sich einen Schreibdiener anstellen konnte. Heute können wir alle auf einen solchen zurückgreifen. Zu grossen Dichtern macht uns das aber nicht automatisch. (aargauerzeitung.ch)
Beim Auswendiglernen früher schrieb ich die Wörter x Mal von Hand auf…
Dies half mir sehr, sie zu lernen…
Man wird sehen, wie sich das entwickelt. Also ich nicht, bin schon zu alt, leider, wäre sehr neugierig.
Ich verstehe die Eltern wenn sie sagen, früher mussten wir noch Schönschreiben lernen. Früher war Schönschreiben auch ein eigenes Fach und die Anzahl Deutschlektionen höher. Heute möchte jeder Fachbereich seine Lektionen haben und so wurden Deutschlektionen zu Gunsten von anderen Lektionen gestrichen.