Der Schweizer Impfstart wurde begleitet von IT-Problemen. Professor Alfred Angerer hat an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) das Digital Health Lab gegründet und forscht in diesem Bereich. Zudem ist er Dozent an der ZHAW School of Management and Law und leitet den Fachbereich «Management im Gesundheitswesen» des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie. Im Interview sagt er, was schiefgelaufen ist.
Die Woche des offiziellen Impf-Starts geht zu Ende, aber das IT-Tool des Bundes war noch nicht bereit. Hat Sie das überrascht?
Alfred Angerer: Nein, das hat mich nicht überrascht. Bei IT-Projekten gibt es oft Kinderkrankheiten. Gerade, wenn man sie kurzfristig ansetzt, es keine längere Test- und Implementierungsphase gab.
Der Impfstoff wurde zwar früher zugelassen, als das erwartet wurde. Aber es war immer klar, dass es eine Impf-IT-Lösung brauchen würde. Hätten Bund und Kantone besser vorbereitet sein müssen?
Ja, es kann niemand sagen, dass das überraschend kam. Alle wussten, dass diese Impfaktion – die grösste der Geschichte – auf uns zukommt. Das ist eine Mammutaufgabe, da hätte man früher und besser rangehen müssen. Dann hätte man auch mehr Zeit gehabt, Kinderkrankheiten auszumerzen.
Der Bund stand seit September mit verschiedenen Firmen in Kontakt, hat den definitiven Auftrag aber erst Mitte Dezember vergeben. Verstehen Sie das?
Normalerweise kann man es sich erlauben, einen Softwareanbieter monatelang zu evaluieren. Aber in dieser Pandemie haben wir eines eben nicht: Zeit.
Der Bund begründet die späte Auftragsvergabe damit, dass man auf die definitive Impfstrategie und -empfehlungen habe warten müssen.
Die Kernaufgabe war schon lange klar: Es geht um die Vergabe von Terminen, darum, zu notieren, wer was wann bekommen hat. Das hätte man früher auf die Beine stellen können. Es gibt heute Möglichkeiten, eine Software so zu bauen, dass punktuelle Anpassungen am Ende schnell vorgenommen sind.
Was hätten Sie anders gemacht?
Man hätte modernere Entwicklungsmethoden einsetzen können. Zum Beispiel schon im Sommer einen Hackathon veranstalten, Teams antreten lassen, die innovative Lösungen vorschlagen sollen. Probleme machte in gewissen Kantonen auch der Ansturm auf die Termine. Systeme sind zusammengebrochen. Das war vorhersehbar. Es gibt Experten, die sich damit auskennen, wenn im selben Augenblick hunderttausend Zugriffe parallel erfolgen – etwa die Entwickler von Ticketsystemen. Zudem ist bei IT-Projekten eines sehr wichtig, ganz ähnlich wie beim Corona-Management: Testen, testen, testen. Das hat man offensichtlich zu wenig und zu spät gemacht.
Man muss aber auch sagen: Die Behörden stehen seit Monaten unter riesigem Druck. Nun ist mit dem Impfen eine weitere Front dazugekommen, während andere nicht verschwinden: das Testen, das Contact Tracing. Muss man da nicht auch ein gewisses Verständnis haben?
Natürlich ist die Situation wahnsinnig anstrengend, natürlich müssen viele Leute seit vielen Monaten täglich an ihre Grenzen gehen. Man spricht oft von den Spitälern, aber ich glaube, dass es auch für viele Behörden gilt. Gleichzeitig muss ich aber auch betonen, dass wir jetzt den Preis für jahrelange Versäumnisse bezahlen.
Welche?
Wir reden uns schon seit langem den Mund fusselig, dass bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens endlich etwas passieren muss. Jetzt brennt die Hütte, und es rächt sich, dass wir im Steinzeitalter stehen geblieben sind. Es fehlt an der richtigen Kultur und am Know-how.
Woran zeigt sich das?
Nun beim Impf-Tool. Zuvor etwa an der Fax-Affäre im Frühling, als sich zeigte, dass Corona-Fälle noch auf diesem Weg ans BAG übermittelt werden. Der Klassiker, der nichts mit Corona zu tun hat, ist das elektronische Patientendossier. Darauf warten wir immer noch. Wir merken jetzt, wo die Schönwetterphase zu Ende ist, wo wir Leistung bringen müssen, dass wir zu wenig trainiert haben, wir nicht in Form sind. Ich hoffe, das wird ein Weckruf.
Sprechen wir nochmals über die Gegenwart. Mehrere Kantone, darunter auch grosse, wollen auch aufgrund der Startprobleme auf ein eigenes Impf-Tool setzen. Eine gute Entwicklung?
Nein. Je mehr verschiedene Lösungen, desto mehr Schnittstellen sind notwendig. Und Schnittstellen sind Reibungsstellen, die muss man vermeiden, weil sie die Gefahr erhöhen, dass sich Fehler einschleichen, etwas schiefgeht. Es geht hier um Administration, und das in einem heiklen Bereich. Da braucht es vor allem eines: Zuverlässigkeit.
Müsste der Bund stärker führen, verbindlichere Lösungen vorschlagen?
Absolut. Die Schweiz ist ja in der glücklichen Situation, über ein Gesetz zu verfügen, welches dies ermöglicht. Ich würde mir wünschen, dass der Bund dies auch im IT-Bereich offensiver wahrnimmt. Dass er sagt: Das lösen wir jetzt zentral. Und dann aber entsprechende Ressourcen bereitstellt und die Kantone unterstützt, auch bei der Umsetzung.
Aktuell liegen noch keine Impf-Zahlen vor. Ab nächstem Montag sollen sie vorerst einmal wöchentlich publiziert werden – im Gegensatz zu Ländern wie Israel, die täglich Zahlen liefern. Reicht das?
Ich verstehe, dass man zu Beginn einer Impfkampagne diese Zahlen noch nicht bereitstellen kann. Grundsätzlich halte ich sie aber für wichtig, und es ist problematisch, wenn sie nur im Wochenrhythmus herauskommen. Man erhebt Zahlen ja, um auf sie reagieren zu können. Und sie sind derzeit in meinen Augen auch wichtig, weil jede geimpfte Person ein wenig Hoffnung bringt.
Unvollständige Tools, alle aus dem Welschland ohne einen einzigen Entwickler, der wirklich Deutsch spricht, dazu oft die falschen Personen falsch eingesetzt, alles hetz hetz obwohl sowas viel früher hätte vorbereitet werden können, und dazu ganz viele kleine Ärgernisse.
Aus IT-Dienstleistersicht laufen wir ziemlich am Anschlag deswegen, aber am Behördenwahnsinn scheint sich nie etwas zu ändern.