Schweiz
Drogen

Landesverweis: Bundesgericht entscheidet über Härtefall

Mutter dealte jahrelang im Kokain-Hotspot der Schweiz: Darf sie trotzdem im Land bleiben?

Heute Mittwoch berät das Bundesgericht einen Härtefall, der die Schwierigkeiten der Landesverweisungen aufzeigt. Die tragische Geschichte einer Drogenhändlerin.
28.08.2024, 09:31
Andreas Maurer / ch media
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Die Schweizer Stadt mit den meisten Drogendelikten pro Kopf ist nicht etwa Zürich, Genf oder Basel. In diesen Städten zeigt die Polizei nur etwa 10 Betäubungsmitteldelikte pro 1000 Einwohner an. Mehr sind es im berüchtigten Crack-Hotspot Lausanne mit 18 pro 1000 Einwohner.

Drogendealerin Kokain
Kokain ist in der Schweiz sehr verbreitet.Bild: Shutterstock

Den schweizweiten Rekord aber hält eine Stadt mit idyllischer Fassade: Luzern. Hier hat die Polizei im vergangenen Jahr 23 Drogendelikte pro 1000 Einwohner erfasst. Ein Grund dafür ist, dass die Polizei Luzern als Drehscheibe im internationalen Kokainhandel einschätzt und konsequent dagegen vorgeht.

Eine Hinterfrau in diesem Business war Maria (Name geändert). Sie ist eine 39-jährige Dominikanerin, die über ihren Freund den Kokainhandel als lukrative Einnahmequelle entdeckt hat. Nach der Trennung führte sie die Geschäfte alleine weiter.

In zweieinhalb Jahren handelte sie mit 1,5 Kilogramm Kokain. Sie bezog das weisse Pulver von Lieferanten aus Zürich, die dafür in ihre Wohnung kamen oder sich mit ihr auf einem Parkplatz trafen, zum Beispiel beim Emmen-Center. Danach bewahrte sie es in ihrem Schlafzimmer auf und verpackte es in kleinere Portionen. Diese verkaufte sie an Strassendealer weiter.

Wenn sie Kokain für 45 Franken pro Gramm einkaufte, verkaufte sie es oft für 55 weiter. Sie setzte 96'000 Franken um und strich einen Gewinn von 31'000 Franken ein. Selber kokste sie nur sehr selten – mal an einer Party. Süchtig wurde sie nie. Ihr Interesse am Stoff war rein geschäftlich.

Zwei Gerichte, zwei unterschiedliche Urteile

Normalerweise erwischt die Polizei nur die Strassendealer. Um an die Hinterleute zu kommen, organisieren die Ermittler aufwendige Aktionen. Die «Hauptzielperson» einer dieser Anti-Drogen-Aktionen war Maria. Nach jahrelangen Ermittlungen erfolgte 2019 der Zugriff: Maria kam in Untersuchungshaft. Zuerst stritt sie alles ab. Doch schon bei der zweiten Einvernahme war sie geständig. Sie sah ein, dass die Beweise erdrückend waren und wollte nun das Beste für sich herausholen.

Das Urteil des Luzerner Kriminalgerichts war für sie allerdings ein Schock. 2020 erhielt sie eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, wovon sie zwar nur die Hälfte absitzen sollte. Doch bedeutender ist, was darauf folgen sollte: eine Landesverweisung für sieben Jahre. Denn sie hat eine Katalogtat begangen, für die seit der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative der SVP im Jahr 2016 eine Landesverweisung grundsätzlich obligatorisch ist.

In einem Leiturteil hat das Bundesgericht die Grenzwerte für schweren Kokainhandel festgelegt: bei 18 Gramm oder 10'000 Franken Gewinn. Maria übertrifft die Vorgaben also um ein Vielfaches.

Trotzdem konnte sie das Luzerner Kantonsgericht 2021 davon überzeugen, dass sie doch in der Schweiz bleiben darf. Die zweite Instanz reduzierte die Freiheitsstrafe nicht nur auf zwei Jahre und acht Monate, wovon sie nur 11 Monate absitzen solle. Das Kantonsgericht strich auch die Landesverweisung.

Die Richter sahen davon ab, weil sie Maria als Härtefall einstuften. Zudem gewichteten sie ihre privaten Interessen an einem Verbleib höher als die öffentlichen an einer Landesverweisung. Maria akzeptierte dieses Urteil. Doch die Oberstaatsanwaltschaft erhob Beschwerde in einem Punkt: Die Anklagebehörde will die Landesverweisung durchsetzen.

Heute Mittwoch verhandelt deshalb das Bundesgericht den Fall. In 99 Prozent aller Fälle werden sich die Richterinnen und Richter im schriftlichen Verfahren einig. Doch die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative sorgt bis heute für Kontroversen in der Justiz. Weil sich das Bundesgericht in diesem Fall nicht einig ist, berät es ihn an einer seiner seltenen öffentlichen Sitzungen.

Die Zahlen schwanken von Kanton zu Kanton

Die Statistik zeigt, dass sich in der Schweiz noch keine einheitliche Praxis zur Anwendung der Landesverweise etabliert hat. Die kantonalen Unterschiede sind gross – unerklärlich gross. Während in Kantonen wie Graubünden, Thurgau und Solothurn drei Viertel der kriminellen Ausländer, die Katalogtaten begangen haben, die Schweiz verlassen müssen, sind es in den Westschweizer Kantonen Freiburg, Neuenburg und Jura nur ein Drittel oder ein Viertel.

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Auch je nach Delikt schwanken die Zahlen. Während alle verurteilten ausländischen Mörder das Land verlassen müssen, sind es bei Sozialhilfebetrügern und Verbreitern von Kinderpornografie weniger als zehn Prozent. Dabei ist die Landesverweisung grundsätzlich auch in diesen Fällen obligatorisch und die sogenannte Härtefallklausel nur für Ausnahmen vorgesehen.

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Bild: Bundesamt für Statistik/CH Media

Bei schweren Drogenkriminellen wie Maria sind die Gerichte jedoch tendenziell hart: 86 Prozent der verurteilten Ausländer müssen die Schweiz verlassen.

Das Mädchen, das mit zwei Jahren ohne Eltern aufwuchs

Im Fall von Maria gibt es allerdings gute Argumente sowohl für als auch gegen eine Landesverweisung. Das Kriminalgericht verhängte diese als erste Instanz, weil es in Maria eine Gefahr für die Gesellschaft sah. Wer mit so viel Kokain dealt, unterstützt das internationale Verbrechen und gefährdet die Gesundheit vieler Leute. Zudem hatte sie sich nie richtig um eine legale Arbeit bemüht.

Doch wie jede Geschichte hat auch jene von Maria eine andere Seite. Es ist die Biografie einer Frau, die schon als Mädchen unten durch musste und seither ein Leben in prekären Verhältnissen führte.

1984 kam sie in der Dominikanischen Republik zur Welt. Schon mit zwei Jahren zogen ihre Eltern in die Schweiz und liessen sie bei den Grosseltern zurück. Erst mit zehn Jahren zog auch Maria in die Schweiz, zuerst in den Aargau und mit zwölf nach Luzern. Nach der Realschule fand sie keine Lehrstelle und rutschte in die Sozialhilfe. Sie arbeitete im Service und hangelte sich von einem Temporärjob zum nächsten.

Mit zwanzig wurde sie Mutter. Doch ihr Partner machte sich bald darauf aus dem Staub. Mit einem weiteren Mann zeugte sie zwei weitere Söhne, doch auch mit diesem hielt die Beziehung nicht lange. Auch er ist für seine Söhne nicht da. Sie wisse nie, wo er sich gerade aufhalte. So kam es, dass sie drei Söhne alleine aufzog.

Der älteste galt als freundlicher und konzentrierter Schüler und startete eine kaufmännische Lehre. Der mittlere aber leidet unter ADHS und attackierte seine Mitschüler. Mit seiner Mutter fühlt er sich allerdings sehr verbunden und hat Mühe, sich von ihr zu trennen.

Der jüngste wird zwar als fröhlich und kontaktfreudig beschrieben, doch wegen Sprachproblemen besucht er eine Sonderschule. Auch er suche die Nähe zu seiner Mutter. Sie ist die einzige Bezugsperson ihrer Kinder. Die Familie hat kein soziales Netz in der Schweiz.

Verstösst Landesverweisung gegen Menschenrechtskonvention?

Das Kriminalgericht hielt eine Landesverweisung für zumutbar, weil die Mutter ihre Söhne ja einfach mitnehmen könnte. Diese sind zwar in der Schweiz geboren und hier sozial und kulturell verwurzelt, doch sie könnten sich in einem anderen Land neu integrieren.

Das Kantonsgericht hielt dies jedoch für unzumutbar, weil die Kinder keinen erkennbaren Bezug zur Dominikanischen Republik hätten und dort nicht die nötige Unterstützung erhielten. Daher würde eine Landesverweisung gegen die Menschenrechtskonvention verstossen: gegen das Recht auf Privat- und Familienleben.

Gleichzeitig stufte das Kantonsgericht das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung nicht allzu hoch ein. Denn Maria habe nun realisiert, dass sie mit dem Drogenhandel ihre Familie gefährdet hat. Mittlerweile sei sie zudem zumindest ansatzweise in den Arbeitsmarkt integriert und kaum rückfallgefährdet. Das Gericht gewichtete deshalb das private Interesse der Familie höher als das öffentliche Interesse der Schweiz an einer Landesverweisung.

Sachverhalt wird neu abgeklärt

Seit dem Kantonsgerichtsurteil sind allerdings bereits drei Jahre vergangen. So langsam mahlen die Mühlen der Schweizer Justiz. Mittlerweile sind die Söhne 20, 17 und 14 Jahre alt. Möglicherweise ist ihre Situation heute eine andere und sie nun weniger abhängig von ihrer Mutter.

Die Staatsanwaltschaft schlägt jedenfalls vor, den Sachverhalt nochmals neu abzuklären und das Verfahren dafür an das Kantonsgericht zurückzuweisen. Falls das Bundesgericht darauf nicht eingehe, solle es die Landesverweisung verhängen und dies gleich für zehn Jahre wie von der Ausschaffungsinitiative vorgesehen.

Es steht viel auf dem Spiel: Für Maria geht es um ihre Zukunft, für die SVP um ihre Ausschaffungsinitiative und für die Staatsanwaltschaft um ihre harte Linie gegen die Drogenkriminalität. (aargauerzeitung.ch)

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247 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Rodger
28.08.2024 09:56registriert November 2020
Es gibt viele Alleinerziehende, welche nicht zum Dealer werden. Deshalb ist die Argumentation fraglich.
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VitoCorleone
28.08.2024 09:49registriert August 2016
Wer sich zum Dealen entscheidet, der muss auch mit den möglichen Konsequenzen rechnen. Egal wie die Umstände sind. Wenn sie an die Umstände gedacht hätte, hätte sie nicht gedealt.
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nichtMc
28.08.2024 09:54registriert Juli 2019
Der Schaden für die Kinder entsteht ja nicht nur durch den Landesverweis, sondern auch durch den Freiheitsentzug der Mutter.
Dieser Schaden ist ja schon eingetreten.

Ich gehe stark davon aus, dass die Mutter nicht nur aus Eigennutz gedealt hat, sondern insbesondere um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Das damit verknüpfte Risiko ist sie aber eingegangen und es ist auch eingetroffen, der Landesverweis wäre aus dieser Sicht die weitere Konsequenz.
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