Das Bundesgericht in Lausanne urteilte im September 2018 im Falle eines Baslers wegen Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG). Er wurde in der Stadt Basel im Dezember 2015 mit 0,5 Gramm Marihuana und 0,1 Gramm Haschisch erwischt und die Polizei stellte ihm Verfahrenskosten und Gebühren von insgesamt etwa 300 Franken in Rechnung.
Das Bundesgericht sprach den Beschuldigten von allen Kosten frei. Es entschied, dass «der blosse Besitz von geringfügigen Drogenmengen zu Konsumzwecken» unter Artikel 19b des BetmG fällt und somit straffrei bleibt. Damit wurde ein Grundsatzentscheid zur Auslegung des umstrittenen Artikel 19b gefällt. Der Konsum steht jedoch weiterhin unter Strafe.
Nach diesem Entscheid dürften die Polizisten also für den Besitz von unter 10 Gramm Cannabis keine Ordnungsbussen mehr verteilen. In einem Artikel vom «Tages-Anzeiger» kurz nach dem Urteil erklärte der Zürcher Polizeisprecher Marco Cortesi jedoch, dass Kiffer weiterhin gebüsst werden.
Neue Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen nun jedoch, dass sich in der polizeilichen Praxis tatsächlich ein Wandel abzeichnet. Die Anzahl ausgestellter Ordnungsbussen wegen Besitz und Konsum von Cannabis sind schweizweit von 2017 auf 2018 um 60 Prozent zurückgegangen.
So wurden 2018 nur noch 7153 solcher Bussen ausgestellt, im Vorjahr waren es noch über 18'000. Besonders in den Kantonen der Westschweiz verzichtete die Polizei häufiger auf das Büssen von Kiffern. In Neuenburg gingen die Bussen von 464 auf 66 beziehungsweise um über 85 Prozent zurück.
Doch auch in den meisten anderen Kantonen ist ein Rückgang zwischen 50 und 80 Prozent zu beobachten. Im Kanton Zürich wurden letztes Jahr 2000 Bussen weniger ausgestellt. Das entspricht einem Rückgang von 70 Prozent. Die Kantonspolizei bestätigt auf Anfrage von watson, dass die Zahlen tatsächlich wegen des Bundesgerichtsentscheids gesunken sind.
Für den Rechtsanwalt und BetmG-Experten Stephan Schlegel leitet die Umsetzung des Bundesgerichtsurteils nun endlich die geplante Entkriminalisierung von Cannabis ein: «Das Gesetz wird nun endlich so umgesetzt, wie es vor über zehn Jahren geplant war.»
Die schlechte Nachricht: Es dürfte sehr schwierig sein, rückwirkend das Geld für bezahlte Ordnungsbussen zurückzufordern. «Das Ordnungsbussenverfahren ist weitgehend anonym. Wer die Rechnung bezahlt hat, hat seine Rechte auf eine Rückforderung verwirkt», so Schlegel.
Die einzigen Ausnahmen sind der Kanton Appenzell Ausserrhoden, Basel-Landschaft und Bern. In den kleineren beiden Kantonen ist dies auf die kleinen Fallzahlen zurückzuführen. In Appenzell Ausserrhoden wurden letztes Jahr 26 und im Kanton Basel-Landschaft 49 solcher Bussen ausgestellt.
In Bern hingegen stieg die Zahl von 196 auf 203. Die Kantonspolizei Bern setzt das Gesetz jedoch bereits seit 2013 im Sinne des Bundesgerichtsentscheid durch. «Ein Ordnungsbussenverfahren ist nur dann möglich, wenn unsere Mitarbeitenden in Uniform den Konsum von Cannabis selber feststellen», sagt Dino Dal Farra, Mediensprecher der Kantonspolizei Bern.
In Bern wurde also bereits seit 2013 niemand mehr gebüsst, der lediglich eine geringfügige Menge auf sich trug. Deshalb kam es hier in den letzten zwei Jahren kaum zu einer Verringerung von Ordnungsbussen. «So lässt sich auch erklären, dass die Anzahl Ordnungsbussen wegen Konsums von Cannabis im Kanton Bern im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, aber auch im Vergleich zu anderen Kantonen über die letzten Jahre betrachtet eher tief war», so Dal Farra weiter.
Die meisten Fallzahlen stammen 2018 aus dem Kanton St. Gallen. Auch hier gab es wie in Bern 2018 noch keine Änderung der polizeilichen Praxis. «Die Kantonspolizei St. Gallen hat gestützt auf den Bundesgerichtsentscheid ihre Praxis ab dem 1. März dieses Jahres geändert», sagt Gian Andrea Rezzoli, Mediensprecher der Kantonspolizei St. Gallen.
Deshalb ist zu erwarten, dass die Zahlen für 2019 auch im Kanton St. Gallen zurückgehen. 2018 belegt der Ostschweizer Kanton im Vergleich der absoluten Zahlen mit 1171 ausgestellten Ordnungsbussen den Spitzenplatz. Damit wurde fast jede sechste Cannabis-Ordnungsbusse in St. Gallen ausgestellt.
Für BetmG-Experte Schlegel ist diese Verzögerung rechtswidrig: «Es gibt spätestens seit September 2017 keine rechtliche Grundlage mehr, Personen für den Besitz von geringfügigen Mengen zu bestrafen. Das gilt auch für den Kanton St. Gallen.»
Der Kanton habe aber schon länger im Betäubungsmittel-Bereich auf eine eigene Rechtspraxis gesetzt. So unterscheide sich die Rechtsprechung dort schon länger vom Rest der Schweiz. «Daher überrascht es mich nicht, dass es nun in St. Gallen ein bisschen länger für die Umstellung gedauert hat», sagt Schlegel.
Es gab mehrere Versuche, Artikel 19b neu zu interpretieren und damit den blossen Besitz von Cannabis nicht mehr unter Strafe zu stellen. Mit dabei war auch der damalige Jus-Student Till Eigenheer.
Dieser verteidigte bereits 2015 einen Mandanten vor dem Zürcher Bezirksgericht und erhielt Recht. Weil es damals das Stadtrichteramt versäumte, fristgerecht in Berufung zu gehen, wurde der Fall nicht weitergezogen.
Im September 2017 unternahm Eigenheer einen weiteren Anlauf mit einem Mandanten und erhielt vor dem Bezirksgericht erneut Recht. Wenige Tage später fällte das Bundesgericht in Lausanne aber das Urteil im Basler Fall.
Konkret ging es um folgenden Satz im BetmG: «Wer nur eine geringfügige Menge eines Betäubungsmittels für den eigenen Konsum vorbereitet [...] ist nicht strafbar.» Es stellte sich damals die Frage, ob «vorbereitet» den blossen Besitz einschliesst oder nicht.
Nun stellt sich die Frage, ob sich diese Änderung der Rechtspraxis auch auf Jugendliche bezieht. Im Juni 2018 gab es beim Obergericht in Zürich dafür einen Entscheid. Das Gericht hebt damit das erste Urteil der ersten Instanz auf.
Auch für Schlegel ist klar: «Was für Erwachsene gilt, muss auch für Jugendliche gelten. Es steht nicht im BetmG, dass es für Jugendliche andere Bestimmungen gibt.» Die Staatsanwaltschaft hat den Fall nun an das Bundesgericht weitergezogen, dort soll grundsätzlich geklärt werden, ob Artikel 19b in Zukunft auch für Jugendliche Anwendung findet.
Macht ja unheimlich Sinn...