Wir sind uns gewohnt, dass der elektrische Strom zuverlässig aus der Steckdose fliesst. Ab und zu kommt es zu Blackouts, aber das sind punktuelle Ereignisse, die meist schnell behoben sind. Der Totalausfall bei den SBB an einem heissen Sommertag 2005 war ein in jeder Hinsicht einmaliger Ausreisser, eine Ausnahme, die die Regel bestätigte.
Nun aber droht Lichterlöschen, im wahrsten Sinn des Wortes. Die Strompreise im europäischen Grosshandel erlebten einen «historisch einmaligen Anstieg», hiess es am Donnerstag an der Jahresmedienkonferenz der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (ElCom). Und das nicht erst seit dem Ukraine-Krieg, sondern seit August 2021.
Dazu beigetragen hat die Stilllegung von mehr als der Hälfte der französischen Atomkraftwerke, unter anderem wegen Korrosionsschäden. Frankreich ist ein wichtiger Stromexporteur, auch für die Schweiz. Hinzu kamen leere Gasspeicher, ein Problem, das sich durch den Streit um russische Gasexporte nach Europa akzentuiert hat.
Die Endkunden spüren vorerst kaum etwas vom Preisanstieg, aber das dürfte sich nach Ansicht der ElCom 2023 ändern. Und schon im nächsten Winter seien je nach Entwicklung «auch Engpässe nicht ausgeschlossen». Denn im Winterhalbjahr muss die Schweiz rund vier Terawattstunden Strom importieren, vor allem aus den Nachbarländern.
Deren Exportfähigkeit ist in Frage gestellt, nicht nur wegen der AKW-Abschaltungen in Frankreich. «Deutschland möchte im Winter Strom von uns importieren, aber wir haben selber ein Winterloch», erklärte Michael Wider, der Präsident des Verbands Schweizerischer Elektrizitätswerke (VSE), am Dienstag an einer Medienkonferenz in Bern.
«Eine Strommangellage war in den letzten 50 Jahren noch nie so realistisch wie jetzt», ergänzte Verbandsdirektor Michael Frank. Im Prinzip ist das Problem erkannt: In der neuesten Risikoanalyse des Bundesamts für Bevölkerungsschutz von 2020 wurde die Strommangellage als grösste Gefahr eingestuft, vor der aktuellen Pandemie.
Sollte der «Ernstfall» eintreten, würde die Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen (Ostral) aktiviert. Sie ist beim VSE angesiedelt und dem Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung unterstellt. «Die Schweiz ist gut vorbereitet», sagte Ostral-Chef Lukas Küng im April in einem Interview.
Falls nicht genügend Strom verfügbar ist, also bei einer Mangellage, kommt laut Küng ein vierstufiges Vorgehen zur Anwendung:
«Niemand muss in Panik verfallen», sagte Lukas Küng in dem auf der Website der von ihm geleiteten Primeo Netz AG veröffentlichten Interview. Aber die Problematik ist auch in der Öffentlichkeit angekommen. Dies zeigt die vom VSE in Auftrag gegebene und am Dienstag vorgestellte repräsentative Umfrage des Instituts GFS Bern zur Energie- und Klimapolitik.
Für die Schweizer Bevölkerung steht demnach die Versorgungssicherheit an erster Stelle, vor dem Umwelt- und Klimaschutz sowie den Kosten. «Der Strom muss fliessen, um so gut wie jeden Preis», lässt sich der Befund auf einen simplen Nenner bringen. Allerdings gibt es Nuancen. So werden fossile Energien und neue Atomkraftwerke klar abgelehnt.
Dabei plant Energieministerin Simonetta Sommaruga mit Gaskraftwerken als Reserve für den Winter. Die tiefe Akzeptanz von Gas dürfte allerdings stark beeinflusst worden sein von der Debatte über die russischen Exporte. Die Umfrage wurde im April durchgeführt, als sie besonders hitzig geführt wurde. Im «Ernstfall» dürfte die Opposition rasch schwinden.
Umgekehrt kann man sich fragen, ob die relativ hohe Zustimmung zu Windkraft oder Lenkungsabgaben den Realitätstest bestehen würde. Gerade bei Lenkungsabgaben schauen viele nur auf die höheren Preise und blenden die Rückzahlung aus, was sich bei der Ablehnung des CO2-Gesetzes im letzten Juni ausgewirkt haben dürfte.
Hinzu kommt ein leidiges Problem: Die vor fünf Jahren angenommene Energiestrategie 2050 «kommt nicht zum Fliegen», klagte VSE-Präsident Michael Wider. Der Ausbau der erneuerbaren Energien, vor allem der Photovoltaik, kommt im Schneckentempo voran. Nun soll es vorwärts gehen, die Politik hat diverse Massnahmen eingeleitet.
So will Sommaruga unter anderem die Bewilligungsverfahren straffen und beschleunigen, was im Sinne des VSE wäre. «Die zahlreichen Ausbauprojekte, die heute über Jahre hinaus in Bewilligungsverfahren und vor Gerichten festhängen, müssen endlich vorankommen», sagte Direktor Michael Frank: Er forderte die Politik auf, «etwas mutiger» voranzugehen.
Im Hinblick auf den nächsten Winter hat der Bundesrat im Februar immerhin entschieden, eine Wasserkraft-Reserve einzurichten. Als entlastende Faktoren wertet die ElCom auch die aktuell gute Verfügbarkeit der schweizerischen Kernkraftwerke und einen reduzierten Verbrauch der Industrie bei anhaltend hohen Preisen. Dennoch bleibe eine Unsicherheit.
Falls ein heisser und trockener Sommer für tiefe Pegelstände in Flüssen und (Stau-)Seen sorgt, Wladimir Putin Europa den Gashahn definitiv zudreht und die französischen AKWs nur reduziert verfügbar bleiben, muss man sich darauf einstellen, dass im kommenden Winter der Strom nicht mehr garantiert aus der Steckdose fliessen könnte.