Mitte-Präsident Gerhard Pfister will im EU-Dossier innenpolitisch vorwärtsmachen. Er fordert, dass der Bundesrat mit den Sozialpartnern eine Einigung findet, um den Schweizer Lohnschutz und die Schweizer Sozialwerke zu sichern. Erst dann dürfe die Schweiz der EU gegenüber Konzessionen machen. Er bringt auch Schutzklauseln ins Spiel, wie sie schon Mitte-Bundesrätin Viola Amherd im Bundesrat gefordert hatte.
Diese überraschenden Forderungen brachte Pfister als Kommissionsmotion in die Aussenpolitische Kommission (APK) des Nationalrats. Sie wurde trotz Widerstand von SVP und Teilen der FDP angenommen.
Parallel reichte SP-Nationalrätin Brigitte Crottaz ein Postulat ein - im Namen von SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. Es will einen Bericht vom Bundesrat über die wichtigsten Unterschiede zwischen Schweizer und EU-Recht beim Arbeitnehmerschutz. Auch dieses Postulat passierte die Kommission trotz Nein-Stimmen aus SVP und Teilen der FDP.
Das zeigt: Der Nationalrat macht vorwärts, um die Beziehungen der Schweiz zur EU in geregelte Bahnen zu lenken. Er hat sein Schritt-für-Schritt-Modell um innenpolitische Lösungen zu Lohnschutz, Sozialwerken und Arbeitnehmerschutz ergänzt. «Für die europapolitische Allianz brauchen wir die Gewerkschaften», sagt Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter.
Das Modell von SP, Grünen, GLP und Teilen der FPD ist der Gegenentwurf zum Vorschlag des Bundesrats. Dieser will ein grosses Paket schnüren - mit institutionellen Fragen, weiteren Abkommen zu Strom und Lebensmittelsicherheit und Assoziierung bei den Forschungsabkommen.
Der Nationalrat hat sich in der Sommersession hauchdünn (93:92 Stimmen) für ein Stabilisierungsabkommen mit der EU ausgesprochen. Erstens sollen sich die Schweiz und die EU auf die Forschungszusammenarbeit einigen. «Das ist im gegenseitigen Interesse», sagt SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, der an der Motion beteiligt war.
Zweitens soll die Schweiz einen jährlichen Kohäsionsbeitrag von 330 Millionen Franken zahlen, wie Nussbaumer sagt. Diesen Betrag hatte Michael Ambühl, Unterhändler der Bilateralen II, in einem Gutachten an den Bundesrat als fair bezeichnete. Und drittens soll die Schweiz eine rechtliche Verpflichtung eingehen, dass sie die institutionellen Fragen für alle Binnenmarktabkommen bis 2027 löst.
«Es ist der Nationalrat, der in der Europapolitik jetzt den Takt vorgibt», sagt Cédric Wermuth, der für seinen Vorstoss in der APK erschien, obwohl er kein Mitglied ist. Der Nationalrat habe das Gegenmodell zum Bundesrat weiterentwickelt und sei «konzeptionell deutlich klarer» als das Aussendepartement. «Diesen Ball sollte Ignazio Cassis jetzt aufnehmen anstatt weiter zu wursteln.»
Mit den Entscheiden hat die APK für Wermuth «ein klares Zeichen für die flankierenden Massnahmen und den Lohnschutz» gesetzt. Die Kommission wolle den Arbeitnehmerschutz ausbauen. «Es ist zudem klar geworden, dass die Sozialpartner in diesen Fragen eine zentrale Rolle spielen sollen.»
Strategisch stellt sich auch die Frage, mit welchem Modell man eine Volksabstimmung eher gewinnt. Ein Referendum gegen das kleine Nationalratspaket könne man gewinnen, sagt Eric Nussbaumer. Der Bundesrat hingegen irre gewaltig, wenn er denke, je grösser das Paket sei, desto einfacher werde es, die Volksabstimmung zu gewinnen. «Das gibt dann eine richtig grosse Europaabstimmung - gewinnen oder alles verlieren.»
Natürlich sind die Bemühungen des Nationalrats nicht ohne Eigeninteressen. Sie sind Vorboten des Wahlkampfs 2023. SP, Mitte und FDP befinden sich europapolitisch in der Bredouille. Deshalb suchen sie eine Positionierung, die ihnen im Wahlkampf eine aktive Rolle erlaubt. Nur so können sie verhindern, dass sie von den Grünliberalen und den Grünen europapolitisch nicht vor sich hergetrieben werden.
Im europäischen Parlament stösst der Weg, den der Nationalrat vorzeichnet, auf Sympathien. Man begrüsse ein Stabilisierungsabkommen, schreiben die fünf Berichterstatter der grossen Fraktionen des Europaparlaments für die Beziehungen zur Schweiz in einem Brief an Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission.
Ein solches Abkommen zeichne ein klares Bild bei den Kohäsionsgeldern und ermögliche ein gutes Klima für die Arbeit an den institutionellen Fragen.
Und was sagt EU-Botschafter Petros Mavromichalis? «Die EU strebt eine umfassende Lösung der offenen Fragen in unserer bilateralen Beziehung an», hält er fest. «Sie wird jeden Vorschlag sorgfältig prüfen, der dieses Ziel anstrebt und den uns der Bundesrat als offiziellen Schweizer Vorschlag unterbreiten wird.»
Übersetzt bedeutet das: Wird die - umfassende - institutionelle Frage nicht gelöst, geht nichts. Und Brüssel prüft einen Vorschlag nur dann sorgfältig, wenn der Bundesrat den Vorschlag unterbreitet.
Hier liegt der Knackpunkt des Modells des Nationalrat. Damit es zum Bundesratsmodell wird, muss der Ständerat im Herbst zustimmen. Das ist aber unwahrscheinlich.
Es ist die Mitte, die das Rennen im Ständerat entscheidet. Im Nationalrat lehnte sie das Stabilisierungsmodell ab. Macht sie jetzt einen Kurswechsel, weil sie zuerst die Lohnschutzfragen geklärt haben will?
Nein, sagt Nationalrätin Schneider-Schneiter. Das Stabilisierungsprogramm sei ein Ablenkungsmanöver der SP. «Wir müssen zuerst innenpolitisch die Reihen schliessen. Dann können wir verhandeln.» (aargauerzeitung.ch)
Die EU kann sehr gut ohne die CH!
Sind einmal die Grenzen zu... hat die CH die Fahrkarte ins Mittelalter.