«Die Massnahmen müssen uns weh tun», sagte FDP-Nationalrat Simon Michel diese Woche am «Lucerne Dialogue».
An der Veranstaltung treffen sich jedes Jahr Unternehmensleute und Politiker, die der Europäischen Union wohlgesinnt sind. Diese Entscheidungsträger befürworten ein neues Vertragspaket zwischen der Schweiz und der EU. Da spricht Michel, der Chef und Miteigentümer des Medtech-Unternehmens Ypsomed, auf dem Podium plötzlich von schmerzhaften Einschnitten.
Warum? Nationalrat Michel beschäftigt sich derzeit mit der Volksinitiative der SVP gegen eine «10-Millionen-Schweiz». Der Bundesrat will keinen Gegenvorschlag ausarbeiten. Die Regierung plant lediglich sogenannte Begleitmassnahmen – in die sich der zuständige Bundesrat Beat Jans bereits verheddert hat.
Simon Michel findet hingegen, dass es unbedingt einen griffigen Gegenvorschlag brauche. Die Initiative der SVP sei gefährlich: Von einem Tag auf den anderen könnte die Zuwanderung von Arbeitskräften aus der Europäischen Union auf null reduziert werden. Und der Bundesrat müsste gegebenenfalls die bilateralen Verträge mit der EU kündigen.
Simon Michel hat registriert, dass der Unmut in der Schweizer Bevölkerung über die hohe Zuwanderung wächst. Kaum jemand bestreitet, dass die hiesige Wirtschaft auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen ist. Aber wenn die Nettozuwanderung in einem Jahr bei fast 100'000 Personen liegt, wird der Wohnraum knapp. Und die Schweiz tut sich zunehmend schwer, ihre Infrastruktur anzupassen.
Mit Exponenten der SP, der Mitte und der Grünliberalen spricht Michel über mehrere Massnahmen, die der SVP-Initiative entgegengestellt werden sollen. Da ist erstens ein «Solidaritätsbeitrag», wie der Solothurner Unternehmer die Zuwanderungsgebühr nennt: Eine Schweizer Firma, die eine Frau oder einen Mann aus der EU anstellt, soll 10'000 Franken an den Bund bezahlen.
Das würde für Unternehmen gelten, die mehr als 250 Personen beschäftigen. Die Gastronomie- und Hotelbranche, die ihre offenen Stellen nur mit Mühe besetzen können, sollen verschont bleiben. Und natürlich würde die Gebühr von 10'000 Franken nur erhoben, wenn die Zuwanderung in die Schweiz anhaltend hoch ist.
Die Politiker in Bundesbern nehmen damit einen Vorschlag der Ökonomen Rainer Eichenberger und Christoph Schaltegger auf. Beide sind der Ansicht, dass die Zuwanderung mit einer Gebühr reduziert werden kann. «Wer dem Gesellschaftsmodell Schweiz beitreten will, sollte einen Mitgliederbeitrag leisten müssen», sagte Schaltegger in einem Interview mit der NZZ. Nun sieht der Gegenvorschlag zur SVP-Initiative vor, dass nicht der Zuzüger, sondern sein Arbeitgeber eine Abgabe zu leisten hat.
Wirtschaftsprofessor Schaltegger findet, dass der Betrag von 10'000 Franken eher zu tief angesetzt sei. «Es wäre meiner Meinung nach angemessen, mindestens doppelt so viel zu verlangen.»
Die zweite Massnahme, die Simon Michel vorsieht: Eine Formel soll aktiviert werden. Ausgearbeitet hat sie der vormalige Spitzendiplomat Michael Ambühl. Wenn die Migration in die Schweiz klar höher ist als im Durchschnitt der EU-Länder, kann der Bundesrat Zulassungsbeschränkungen erlassen – so funktioniert die Formel. Vorgesehen ist eine vereinfachte Variante.
In den vergangenen Jahren verzeichnete in der Europäischen Union einzig Luxemburg eine höhere Zuwanderung als die Schweiz. Es ist klar, dass Bern auf der Basis der Ambühl-Formel schnell eine Limite verhängen könnte.
Nun stellen sich aber zwei Fragen: Wie würde die Europäische Union reagieren, wenn die Schweiz eine Zutrittsgebühr von 10'000 Franken einführen würde? Und warum ist eine solch einschneidende Massnahme überhaupt nötig – wo Brüssel doch der Schweiz im neuen Vertragspaket wahrscheinlich eine konkretere Schutzklausel zugesteht?
Zu letzterem Punkt meint Nationrat Michel: Die Schutzklausel werde mit hoher Wahrscheinlichkeit keine klaren Massnahmen vorsehen. Sie gebe einen allgemeinen Rahmen vor. «Wenn man die 10-Millionen-Initiative der SVP wirksam bekämpfen will, muss man der Bevölkerung erklären, mit welchen Mitteln eine anhaltend hohe Zuwanderung konkret reduziert werden kann.»
Der Unternehmer erklärt ausserdem: Es sei klar, dass die EU gegen den «Solidaritätsbeitrag» in einer Höhe von 10'000 Franken protestieren würde. Wahrscheinlich würde Brüssel sogar ein Verfahren gegen die Schweiz einleiten. Bis es abgeschlossen wäre, verstrichen aber bis zu acht Jahre. «Bis zu diesem Zeitpunkt können wir die Abgabe wieder aufheben, weil sich die Zuwanderung reduziert hat», sagt Michel.
Die Schweiz würde also einen Konflikt mit der Europäischen Union in Kauf nehmen, aber – im Unterschied zur SVP-Initiative – ohne die bilateralen Verträge aufs Spiel zu setzen. Der Präsident der Mitte, Gerhard Pfister, hatte im vergangenen Sommer einen ähnlichen Plan vorgestellt.
Der Fraktionschef der Mitte, Philipp Bregy, erklärt nun: «Mit seinem Vorschlag nimmt Nationalrat Simon Michel die Forderung des Mitte-Präsidenten Gerhard Pfister nach einer einseitigen Schutzklausel auf. Diese ist als direkter Gegenvorschlag auf Basis des Ambühl-Modells zur 10-Millionen-Schweiz der SVP zu verstehen.»
Die Mitte macht also mit beim Plan, die Volksinitiative der SVP zu kontern. Was ist mit der SP? Von der Parteileitung ist keine Stellungnahme zu bekommen. Die Sozialdemokraten wollen Michels Plan gründlich prüfen, bevor sie eine Meinung dazu abgeben.
Zurückhaltend äussert sich Jürg Grossen, der Präsident der Grünliberalen. «Wir sollten abwarten, was die Schweiz in den Verhandlungen zu den Bilateralen III genau aushandeln konnte, bevor wir laut über zusätzliche Mechanismen zur Eingrenzung der Zuwanderung nachdenken.» Im Rahmen der Bilateralen III solle es bekanntlich «eine massgeschneiderte Schutzklausel» geben.
Negativ fällt die Reaktion der Grünen aus. «Die FDP hat ihren Kompass völlig verloren», sagt Parteipräsidentin Lisa Mazzone. Als angebliche Unternehmenspartei schlage sie eine bürokratische Unternehmensteuer vor. Das sei absurd. Man gewinne gegen «die SVP-Abschottung», wenn man richtig mobilisiere. Die letzte SVP-Initiative zur Migrationsbegrenzung sei mit mehr als 60 Prozent der Stimmen abgelehnt worden. «Die Schweiz braucht keine Zuwanderungsgebühr, sondern Investitionen in bezahlbare Wohnungen und den öffentlichen Verkehr.»
Lisa Mazzone bezieht sich auf die SVP-Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung», die im Jahr 2020 mit 61,7 Prozent Neinstimmen abgewiesen wurde. Von 2016 bis 2021 lag die jährliche Nettozuwanderung in die Schweiz bei 53'000 bis 61'000 Personen.
Es zeigte sich: Die Zuwanderung in die Schweiz war damals kein grosses politisches Thema mehr. Erst die steigenden Zahlen in den folgenden Jahren lösten in Teilen der Bevölkerung ein neues Unbehagen aus. Die Nettozuwanderung nahm 2022 auf 81'000 Personen zu und kletterte im vergangenen Jahr auf 99'000. Im laufenden Jahr zeichnet sich eine leichte Abnahme auf ungefähr 85'000 ab.
Damit im Bundesparlament ein Gegenvorschlag gegen die 10-Millionen-Initiative der SVP Chancen hat, benötigt er die Unterstützung von der FDP bis ins linke Lager. Nationalrat Michel wird sich anstrengen müssen, um die Sozialdemokraten von seiner Idee zu überzeugen. Es reicht nicht, wenn sich die Freisinnigen und die Mitte für eine Zuwanderungsgebühr aussprechen. (aargauerzeitung.ch)