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Hochwasser 2005 in der Schweiz: Rückblick auf die Naturkatastrophe

Die Sarneraa trat im August 2005 über die Ufer in die Altstadt von Sarnen.
Die Sarneraa trat im August 2005 über die Ufer in die Altstadt von Sarnen.Bild: Kantonspolizei Obwalden
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Hochwasser 2005: «Einige Kunden hatten alles verloren, sogar ihr Zuhause»

Vor 20 Jahren setzten sintflutartige Regenfälle die Schweiz unter Wasser. Der Schaden war riesig. Mit dem Hochwasser von 2005 fand ein Umdenken statt. Seitdem wird vermehrt in Prävention investiert. Das zahlt sich aus.
24.08.2025, 05:1624.08.2025, 05:16
Florence Vuichard / ch media
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Als Erwin Koller im August 2005 in Sarnen ankam, stand der Dorfbrunnen im Wasser. Da wusste der Schadensinspektor der Versicherung Mobiliar, diesmal ist alles anders. Er bezog vor Ort ein Büro, das in den nächsten eineinhalb Jahren sein Arbeitsplatz werden sollte. In den ersten sieben Monaten wohnte er im Hotel, für die gut einstündige Fahrt ins Luzerner Hinterland zu seiner Familie fehlte die Zeit.

Schäden mussten erfasst, Kunden betreut werden. Über 2000 Schadensmeldungen landeten auf dem Tisch der Generalagentur Sarnen. «Einige Kunden hatten alles verloren, vorübergehend sogar ihr Zuhause», erinnert sich Koller, der auch heute noch für die Mobiliar arbeitet.

Der mehrtägige, sintflutartige Regen hatte nördlich der Alpen die Seespiegel ansteigen lassen sowie Bäche und Flüsse zu reissenden Strömen verwandelt. Ab dem 21. August standen die ersten Orte unter Wasser. Hänge kamen ins Rutschen. Sechs Menschen starben. Die materiellen Schäden beliefen sich letztlich auf rund 3 Milliarden Franken, die ursprünglich festgesetzten Obergrenzen für Gebäudeschäden und sogenannte Fahrhabe, also bewegliche Sachen wie Möbel, Kleider oder Betriebsinventar, mussten angehoben werden. «Es war ein einziger, riesiger Schadensplatz, der sich vom Berner Oberland bis nach Klosters in Graubünden erstreckte», sagt Koller. «Wir konnten den Menschen nicht sagen, dass sie nur zwei Drittel ihrer versicherten Werte erhalten, weil die reglementarisch festgesetzten Obergrenzen erreicht sind.»

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Das die Stadt Bern stand im Augst 2005 unter Wasser.Bild: KEYSTONE

Kollers Mobiliar hat letztlich schweizweit 425 Millionen Franken für Schäden aus dem Hochwasser 2005 bezahlt – für die Versicherung bis heute ein noch immer unerreichter Rekord aus einem einzigen Ereignis. Die Erfahrung, die sich jetzt zum 20. Mal jährt, hat bei der Mobiliar ein Umdenken eingeleitet: Sie investiert nun vermehrt in die Prävention, was sich wiederum dank tieferer Schadenssummen auszahlen sollte.

Rund 180 Präventionsprojekte hat sie seitdem mit insgesamt 46 Millionen Franken unterstützt, davon 159 gegen Hochwasser. Zusätzlich hinzu kamen ab 2019 die «mobilen Hochwasserschutzsysteme», also die orangen Schutzschläuche, die bei Bedarf aus dem Container geholt und mit Wasser gefüllt werden könnten. 24 Gemeinden und Kantone haben bis heute ein solches System von der Mobiliar geschenkt erhalten, darunter Zofingen und Aarau im Aargau, Burgdorf, Biel und Interlaken im Kanton Bern oder Luzern und Schwyz.

Hochwasser 2005 Rückblick Aarau
2023 erhält auch Aarau von der Mobiliar einen Container mit mobilen Deichen.Bild: CHMedia

Das Hochwasser 2005 war ein «Weckruf für die ganze Schweiz», sagt Andreas Zischg, Professor an der Universität Bern und Co-Leiter des Mobiliar Labs für Naturrisiken. In der rund 70 Jahre währenden «Katastrophenlücke» im 20. Jahrhundert hätten die Menschen das «Bewusstsein für Naturrisiken» verloren, hätten ihre Häuser und Strassen viel zu nah ans Ufer gebaut – bis zur Hochwasserserie, die in Poschiavo 1987 ihren Anfang nahm, 1994 Brig VS und 1999 Bern traf und 2005 ihren Höhepunkt fand.

Die Hälfte der Gemeinden hätten seitdem den Hochwasserschutz verbessert, sagt Zischg. «Es wurde viel gemacht.» Stollen wurden gebaut, den Flüssen, wo möglich, mehr Platz eingeräumt, Gebäude verstärkt. Die andere Hälfte der Gemeinden habe aber noch immer nichts gemacht. Diese Orte liessen auch zu, dass weiter in der Gefahrenzone gebaut werde, sodass letztlich der Anteil der Gebäude in der Gefahrenzone in den vergangenen 20 Jahren sogar um 35 Prozent gestiegen sei.

Hochwasserschutz zahle sich aus. Davon ist Zischg überzeugt. Er arbeitet mit Forschenden daran, dies auch anhand von konkreten Beispielen mit Zahlen zu unterlegen. So wurden laut Zischg dank des 2009 in Betrieb genommenen Hochwasser-Entlastungsstollens, mit dem der Thunerseepegel reguliert werden kann und dessen Bau rund 65 Millionen Franken gekostet hat, allein im Regensommer 2021 einige Millionen Franken an Gebäudeschäden vermieden.

Hochwasser 2005 Rückblick Aarau
Schaden abgewendet: Die mobilen Deiche schützen 2021 in Unterseen bei Interlaken BE das Restaurant Neuhaus vor dem hohen Pegel des Thunersees.Bild: CHMedia

Mit dem Mobiliar Lab «übersetzt» Zischg die neusten Forschungserkenntnisse zu Naturgefahren in anwendbare Handlungsanleitungen, etwa für einen besseren Hochwasserschutz. Auf diese kann dann die Mobiliar selbst, aber auch ihre Konkurrenz zurückgreifen – ebenso wie die Öffentlichkeit. So gibt es ein Visualisierungstool für «plausible Extremereignisse», erstellt aus den riesigen Datensätzen realer Wettervorhersagen.

Damit lassen sich auch die «Hotspots» identifizieren, also jene Gemeinden oder Regionen, wo das Hochwasserrisiko besonders hoch ist, wie etwa Burgdorf, weil dort die Emme grosse Schäden verursachen kann, wenn sie einmal über die Ufer tritt. Oder wo das Schadenspotenzial durch Hochwasser besonders gross ist, weil wie in der Zentralschweiz überdurchschnittlich viele Häuser in der Gefahrenzone stehen. Im Schweizer Durchschnitt liegt dieser Wert bei rund 15 Prozent, sagt Zischg, in der Zentralschweiz variiere er zwischen 15 und 40 Prozent.

Der grösste Hotspot sei aber eigentlich die Stadt Zürich, sagt Zischg. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Sihl-Pegel ansteige, sei zwar klein. Der potenzielle Schaden hingegen wäre aber in einem solchen Fall riesig: Man müsse sich nur vorstellen, dass Banken, Serverräume und der Hauptbahnhof eine Woche lang stillstehen würden. Deshalb sei es gut, dass nunEntlastungsstollen von Langnau am Albis nach Thalwil gebaut werden, mit dem ab 2026 allfälliges Wasser von der Sihl in den Zürichsee übergeleitet werden könne.

JAHRESRUECKBLICK 2005 - INLAND - SCHWEIZ HOCHWASSER LUZERN: A woman pushes a man in a wheelchair as other persons wade through the flooded Schweizerhof Quay in Lucerne, Wednesday, August 24, 2005. The ...
Ausnahmezustand vor 20 Jahren in der Stadt Luzern.Bild: KEYSTONE

Die Gesellschaft müsse lernen, mit extremen Naturereignissen zu leben, sagt Zischg. Um die Hochwasserschäden möglichst klein zu halten, brauche es deshalb eine «Kombination von Massnahmen»: mehr Hochwasserschutz und vor allem, wo Ersteres nicht möglich ist, mehr Objektschutz, damit sich das Haus bei der nächsten Überschwemmung schadlos halten kann, sowie ein funktionierendes Frühwarnsystem.

Und es braucht die Versicherungen, die dann für allfällige Schäden geradestehen und den Betroffenen helfen können, wie 2005 Erwin Koller. «Es ist letztlich gut herausgekommen», sagt der Mobiliar-Schadensinspektor. «Aber es war schon eine ganz neue Dimension.»

Ein Mann paddelt am Dienstag 23. August 2005 in einem Boot durch das Hochwasser im Zentrum von Sarnen. Der Obwaldner Hauptort stand am Dienstag bis zu einem Meter hoch unter Wasser. (KEYSTONE/Urs Flue ...
Sarnen 2005: Ein Mann paddelt durch das Zentrum von Sarnen.Bild: KEYSTONE
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