Als Isabell Schneider* von ihrem Tauchurlaub am Roten Meer nach Hause kommt, trifft sie beinahe der Schlag. Mitsamt dem ganzen Gepäck in der Hand steht sie im Gang des Mehrfamilienhauses und starrt ungläubig auf das Klingelschild der gegenüberliegenden Wohnung. Da steht der Name ihres Ex-Partners.
Jener Mann, der Schneider über Wochen und Monate gestalkt, überwacht, sexuell genötigt und psychisch fertig gemacht hatte. Jener Mann, von dem sie sich fünf Monate vorher getrennt hat. Jener Mann ist nun, während sie sich in Ägypten eine Auszeit gönnte, zwar endlich ausgezogen, wie er es ihr versprochen hatte, doch nicht etwa weit weg, sondern in die Wohnung just vis-a-vis.
Schneider kann fortan das Haus nicht mehr verlassen, ohne dass ihr Ex es mitkriegt. Ständig versucht er, Nähe zu schaffen, irgendwie an sie ranzukommen. Noch immer ist er im Besitz ihres Wohnungsschlüssels. Unter dem Vorwand, den gemeinsamen Hund zu holen oder abzugeben, geht er nach wie vor bei ihr ein und aus, wie es ihm passt.
Rund eine Woche nach seinem Umzug in die Wohnung gegenüber eskaliert die Situation. Nach einem Streit wirft Schneider ihm all die Sachen, die er noch immer bei ihr lagert, in seine Wohnung. Und verlangt, dass er ihr endlich ihren Wohnungsschlüssel zurückgibt. Er rastet komplett aus, gibt ihr eine Ohrfeige und sagt: «Ich mach dich kaputt.» Sie spuckt ihm ins Gesicht, dann prügelt er auf sie ein. Mit der Faust schlägt der knapp fünfzig Kilogramm schwerere Mann sie aufs Ohr, auf die Schläfe und in den Nacken.
Schneiders Kollegin, die gerade zu Besuch ist und alles beobachtet, schafft es irgendwie, den Ex wegzustossen. Nachdem er von ihr ablässt, bricht Schneider zusammen. Schneider ist in Panik. «Ich hatte Todesangst», sagt sie. Sie weiss, dass ihr ehemaliger Partner einen Waffenschein und entsprechend Waffen und Munition besitzt. In dem Moment hätte sie ihm alles zugetraut. Sie ruft auf dem örtlichen Polizeiposten an – ein Schritt, den sie im Nachhinein bereuen wird. Mit der Anzeige bei der Polizei gerät Schneider in eine sich immer weiterdrehende Abwärtsspirale aus Wut, Unverständnis, Ohnmacht und Hilflosigkeit.
Jede zweite Woche wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Jede Woche erfolgt ein Tötungsversuch. 18'522 Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt registrierte die Schweizer Polizei allein im vergangenen Jahr. In rund 70 Prozent der Fälle waren Frauen die Opfer und in 75 Prozent Männer die Täter. Die eigenen vier Wände sind für Frauen der gefährlichste Ort in der Schweiz. Doch nur selten zeigen sie nach einem Übergriff die Täter bei der Polizei an. Aus der Forschung weiss man, dass gerade Mal ein Fünftel der Opfer von häuslicher Gewalt Anzeige erstattet.
«Kein Wunder», sagt Isabell Schneider heute. Fast zwei Jahre sind seit der Prügelattacke ihres Ex-Partners vergangen. Hätte sie gewusst, was auf sie zukommt, hätte sie nach dem Vorfall kaum zum Hörer gegriffen. Nach ihrem Anruf erscheinen die Beamten bei ihr zu Hause. Danach durchsuchen sie die Wohnung des Ex-Partners, finden bei ihm ein nicht fachgerecht gesichertes Sturmgewehr und Munition. Neben weiteren registrierten Waffen stellen sie auch einen illegalen Schalldämpfer sicher.
Um Anzeige zu erstatten, wird Schneider auf dem Polizeiposten befragt. Sie will nun endlich alles erzählen. Wie sich die Gewalt über die Jahre langsam in ihre Beziehung eingeschlichen hatte, wie ihr Ex-Partner begonnen hatte, ihr nachzuspüren, an ihrem Arbeitsort auftauchte, immer eifersüchtiger wurde, ihr den Kontakt zu ihrem besten Freund verbot. Wie er sie immer öfters zum Sex zwang, obwohl sie nicht wollte. Wie er sich hinter sie in die Dusche schlich, um sie von hinten zu penetrieren. Wie er ihr mehrmals nachts, als sie schon schlief, die Hose auszog und versuchte, in sie einzudringen. Sie will erzählen, warum sie trotzdem so lange blieb und nicht weg konnte. Wie es ihr nun wie Schuppen von den Augen fällt.
Doch der Polizist ist kurz angebunden und würgt sie ab. Sie soll ihre Aussage auf den Vorfall der häuslichen Gewalt beschränken. Alles andere sei Beigemüse und könne sie dann der Staatsanwaltschaft erzählen. Aber hierhin gehöre das nicht. «Ich fühlte mich verhöhnt und nicht ernst genommen. Der Polizist verhielt sich mir gegenüber komplett unempathisch. Er sagte mir: Aber sie haben sich doch mal gemocht.» Nach ihrer Aussage muss Schneider im dunklen Eingangsbereich des Polizeipostens warten. Drei Stunden lang. «Da sass ich, grün und blau geschlagen, war müde, hatte Schmerzen und fühlte mich stehen gelassen und erniedrigt.»
Nach Hause kann Schneider nach dem Vorfall nicht. Immerhin erlässt die Polizei ein Kontakt- und Annäherungsverbot für zwei Wochen. Doch ihr Ex ist nach wie vor ihr direkter Nachbar. Für sie ist klar, sie muss weg. Sie packt über Nacht ihre Sachen und kommt in einer geheimen Wohnung unter, die ihr nicht etwa durch die Polizei, sondern durch ihren Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird. An Normalität ist nicht zu denken, sie leidet unter Panikattacken, ihr Hausarzt schreibt sie krank und verordnet eine Psychotherapie. Obwohl sie nun zumindest räumlich eine Distanz zu ihrem Ex geschaffen hat, setzt er ihr weiter zu.
Wenige Tage nach der Prügel-Attacke erhält sie einen Anruf: Ihr Hund sei entführt worden. Sie hatte das Tier vorübergehend bei ihrem besten Freund untergebracht, weil sie zwischen Arzt- und Anwaltsterminen hin- und herfahren musste. Plötzlich sei ein fremder Mann bei ihrem besten Freund aufgetaucht und habe verlangt, dass er ihm den Hund gebe. Der Freund sei eingeschüchtert gewesen und habe darum getan, was von ihm verlangt wurde.
Schneider ist am Boden zerstört. Sie sucht Hilfe bei der Polizei und Gerichtsbehörden. Jedoch vergeblich. Sie setzt sich in ihr Auto, fährt quer durch die Schweiz und findet ihren Hund schliesslich zufällig im alten Pferdestall ihres Ex-Partners im Elsass. Doch damit nicht genug. Plötzlich erhält sie Nachrichten von Männern, die sich erkundigen, wieviel sie für Sex verlange. Schnell findet Schneider heraus, dass ihre Handynummer auf einer Website für Kleinanzeigen in einem Erotikinserat aufgeschaltet wurde.
Für Schneider wird das Ganze zu einem nicht enden wollenden Albtraum. Ihr Ex belästigt Freunde und Familie, beschimpft und bedroht sie in Einvernahmen und streitet alles ab. Sie hat sich inzwischen einen Anwalt genommen. Mit seiner Hilfe reicht sie nebst Körperverletzung, Drohung und Tätlichkeit auch Anzeige wegen Diebstahl, Betrug, Verleumdung, übler Nachrede, sexueller Belästigung und Missbrauch ein.
Doch immer wieder hat sie das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. «Von der Polizei fühlte ich mich missverstanden und der ermittelnde Staatsanwalt ignorierte mich.» Sie will sich Gehör verschaffen und stellt Beweisantrag um Beweisantrag. Ihr wichtigstes Anliegen ist simpel: Sie will angehört werden und ihre komplette Aussage platzieren können. Doch auf eine Einladung der Staatsanwaltschaft wartet sie bis heute.
Bei der Ausgestaltung eines Verfahrens hat die Staatsanwaltschaft einen gewissen Freiraum. Ein Opfer muss nicht zwingend zusätzlich von dem Staatsanwalt einvernommen werden. Dieser kann direkt einen Strafbefehl erlassen, wenn der Fall in seinen Augen ausreichend geklärt und der Täter geständig ist. Dieser Freiraum und die unterschiedlich hohe Sensibilität von Polizisten und Staatsanwälten trägt massgeblich zum Verlauf des Bewältigungsprozesses von Opfern bei. Häufig haben Opfer von häuslicher Gewalt Mühe mit dem Strafverfahren.
Das hört Pia Allemann bei ihrer täglichen Arbeit immer wieder. Sie ist Co-Leiterin der Zürcher Beratungsstelle für Frauen (BIF). «Oft werden die Aussagen der Opfer als nicht genügend glaubhaft gewertet. Zum Beispiel, wenn eine Frau Anzeige erstattet, nachdem sie von ihrem Partner verprügelt wurde und später berichtet, dass es früher auch schon zu sexuellen Übergriffen gekommen ist.» Das werde dann so interpretiert, dass die Frau dem Mann nun einfach noch eine sexuelle Nötigung nachschieben wolle. Aus Rache. «Dabei ist es vielmehr so, dass es eben oft Zeit und Vertrauen braucht, bis ein Opfer ein Sexualdelikt zur Anzeige bringen kann und nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt», sagt sie.
Je sensibilisierter ein Polizist oder ein Staatsanwalt im Bereich Trauma und Traumafolgestörung sei, umso einfacher sei es für ein Opfer und umso verwertbarer dessen Aussagen für das Strafverfahren, sagt Allemann. Doch wie intensiv Polizisten und Staatsanwälte auf das Thema geschult werden, sei sehr unterschiedlich. Im Kanton Zürich wurden Staatsanwälte im vergangenen Jahr verpflichtet, an einem Weiterbildungstag in diesem Bereich teilzunehmen. «Das ist sicher mal ein Anfang. Solche Schulungen braucht es aber regelmässig und flächendeckend.»
Dass sich Opfer von häuslicher Gewalt so selten an die Polizei wenden, hat mehrere Gründe. Einerseits liegt es daran, dass sie mit dem Täter emotional verbunden bleiben und im Grunde nicht wollen, dass er verurteilt wird. Andererseits mangelt es am Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörde. Ein weiterer Punkt führt Allemann an: «In meinen Augen liegt es auch an dem Schweizer Strafrecht selbst, dass ein Opfer sich während eines Verfahrens unwohl fühlt. Exemplarisch sieht man das bei Sexualdelikten. Ein Opfer muss sich rechtfertigen, ob es dem Täter klar genug gemacht hat, dass es den Übergriff nicht wollte. Das suggeriert immer eine Mitschuld.»
Schneider, die heute 37 Jahre alt ist, wünscht sich mehr Sensibilität. Von den Polizisten und von der Staatsanwaltschaft. «Meiner psychischen Gesundheit hätte es gut getan, wenn von Anfang an der Eindruck erweckt worden wäre, dass man sich um mich kümmert, dass man mich ernst nimmt.» Die Tatsache, dass ihr jegliche Möglichkeit, sich zu äussern, über anderthalb Jahre verwehrt geblieben sei, erwecke bei Schneider ein grosses Ungerechtigkeitsgefühl. «Das verschlimmert am Ende das, was mir mein Ex angetan hat.»
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Partner von Schneider liegt inzwischen vor, wurde jedoch vom Gericht zur Nachbesserung in mehreren Punkten zurückgewiesen.
*Name der Redaktion bekannt.
Es tut mir leid für jeden Menschen, der so etwas erleben muss und sich selbst so wenig wahr- und ernstgenommen fühlt.