Schweiz
Feministischer Streik

Frauenstreik: Diese Pflegerin kämpft seit Jahren für Gerechtigkeit

Engagiert sich seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege: Sandra Schmied.
Engagiert sich seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege: Sandra Schmied.bild: watson
Feministischer Streik

Langzeitpflegerin: «Das verträgt man auf Dauer einfach nicht»

Sandra Schmied arbeitet seit mehr als 30 Jahren in der Pflege, verdient weniger als ihr frisch ausgebildeter Sohn und kämpft als alleinerziehende und erwerbsarme Mutter seit Jahren für eine Verbesserung im Gesundheitswesen. Für Frauen wie sie streiken die Frauen der watson-Redaktion heute.
14.06.2023, 09:2415.06.2023, 09:46
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Für einen Tag vergisst Schmied ihre Sorgen und den Kummer in ihrer Branche – der Pflege. Es ist der 14. Juni 2019 – der Tag des Frauenstreiks, der später als grösste Mobilisierung in der Schweiz Geschichte schreiben wird. Im ganzen Land gehen rund eine halbe Million Frauen auf die Strasse, um den Forderungen nach Gleichstellung und verbesserten Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen.

Eingekreist in der Menschenmasse auf der Kornhausbrücke in Bern tanzt Sandra Schmied. Die Brücke bebt zu lauter Musik. Bei der Langzeitpflegefachfrau löst die geballte Energie Gänsehaut aus. Sie ist zuversichtlich: Die jungen Menschen sind laut, sie können etwas bewegen, sie trauen sich.

So stark rebelliert habe ihre Generation noch nicht. «Gerade in meinem Beruf, in der Pflege, hat man sich als Frau früher kaum getraut, gegen Missstände vorzugehen, sich zu wehren, wenn man sich ungerecht behandelt fühlte», erzählt die 53-Jährige bei einem Kaffee in ihrer Heimatstadt Bern.

Mit 33 Jahren Berufserfahrung engagiert sich Schmied seit über 10 Jahren für bessere Arbeitsbedingungen im Pflegewesen, wo der Frauenanteil besonders hoch ist. Das aktuelle System «verhäbt nüm», sagt die Stadtbernerin. Wie gewaltig sich das Gesundheitssystem in den letzten Jahrzehnten verändert hat, weiss sie aus leidvoller, eigener Erfahrung.

«Als ich in den 80ern die Ausbildung begann, fand gerade ein positiver Umbruch statt. Ich erlebte noch Heime mit 8-Bett-Zimmern. Vom Pflegemindestniveau ‹warm, satt und sauber› kam man dann erfreulicherweise weg und passte sich den Bedürfnissen alter Menschen an. Man begann, die Menschen zu betreuen, statt nur zu pflegen.»

Sandra Schmied kämpft als Langzeitpflegefachfrau und Mitglied der Unia seit Jahren gegen den Pflegenotstand. Der Frauenstreik ist in ihrer Agenda jeweils fett markiert.
Sandra Schmied kämpft als Langzeitpflegefachfrau und Mitglied der Unia seit Jahren gegen den Pflegenotstand. Der Frauenstreik ist in ihrer Agenda jeweils fett markiert. bild: watson

So entstand auch die Liebe zum Beruf, von dem sich Schmied bis heute nicht trennen konnte, der aber alljährlich unerträglicher werde: «Früher hatten wir genügend Zeit, um uns um die Patientinnen und Patienten zu kümmern. Morgens pflegten wir die älteren Menschen, nachmittags gingen wir spazieren, in den Zirkus oder kochten gemeinsam.»

Mit dem heutigen Pflegenotstand bleibe für die Betreuung keine Zeit. «Wir haben keine Ressourcen, um eine Beziehung zu den älteren Menschen aufzubauen. Die Zeit reicht nur für die Pflege. Das führt dazu, dass die Menschen den ganzen Tag vor sich hin hinvegetieren.»

Mit glasigen Augen sagt die langjährige Pflegefachfrau: «Es ist ein Elend. Das verträgt man auf Dauer einfach nicht.»

Kürzlich kam auch die taffe Bernerin an einen toten Punkt. Zu viele Überstunden. Zu viele Dienstwechsel. Zu viel Druck. Und zu wenig Nähe zu den Patient:innen. Sie nahm eine Auszeit und Berufsberatung in Anspruch. Vor einigen Jahren wäre ein Tätigkeitsunterbruch für Schmid kaum möglich gewesen. «Als alleinerziehende Mutter musste ich viele Jahre an der Working-Poor-Grenze leben. Bis zur Ausbildung meines Sohnes musste ich einfach funktionieren – als Pflegerin und als Mutter. Das war hart.»

Das Muttersein ist für Sandra Schmied die schönste Sache der Welt. Stolz erzählt sie: «Er hat erst kürzlich die Lehre als Polymechaniker abgeschlossen.» Eine Branche, die genauso unter einem Fachkräftemangel leidet, im Gegensatz zur Pflege aber deutlich besser entschädigt werde: «Mein Sohn ist frisch aus der Lehre, arbeitet temporär und verdient sehr viel besser als ich mit meinen 33 Jahren Berufserfahrung.»

«Wie geht das?»

«Das macht mich wütend.»

Trotz dieser Ungerechtigkeit bleibt Schmid ihrem Beruf treu – den älteren Menschen zuliebe. Und weil doch noch etwas Hoffnung in ihr schlummert, insbesondere durch die Annahme der Pflegeinitiative. Das voraussichtlich Mitte 2024 in Kraft tretende Gesetz soll die Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten in der Pflege verbessern.

Tatenlos abwarten will die engagierte Pflegerin aber dennoch nicht. Sie sieht es als ihre Pflicht, dass der Gesellschaft und der Politik bewusst wird, wie schlimm es in Zeiten einer wachsenden und immer älter werdenden Bevölkerung um das Gesundheitswesen steht.

«Als alleinerziehende Mutter musste ich viele Jahre an der Working-Poor-Grenze leben.»

«Der Gedanke, dass meine Mutter bald selbst in einem Pflegeheim betreut werden muss, beängstigt mich, weil ich weiss, welche Zustände dort herrschen.» Als Beispiel erzählt sie von einem Vorfall, der sich soeben zugetragen habe: «Vor ein paar Tagen starb eine Frau, die davor tagelang alleine in ihrem Zimmer gesessen ist. Sie hatte keine Angehörigen. Solche Menschen müssen begleitet werden, damit sie loslassen, Abschied vom Leben nehmen und in Frieden sterben können.»

Die Bernerin könnte Hunderte solcher Beispiele nennen. Nicht nur in den Heimen fehlt die Zeit, sondern auch in der Akutpflege. Es betreffe demnach nicht nur die ältere Generation. «Es ist wie ein Rattenschwanz. Wenn wir uns nicht richtig um alte und/oder kranke Mitmenschen kümmern, dann verkümmern sie. Das zeigt sich unter anderem auch beim starken Anstieg von psychischen Krankheiten.»

Sandra Schmid widmet ihren Kampf vor allem der nächsten Generation.
Sandra Schmid widmet ihren Kampf vor allem der nächsten Generation.bild: watson

Sandra Schmied ist eine jener Frauen, die man sich im letzten Abschnitt des Lebens an seiner Seite wünscht. Trotz des Druckes versucht sie den Patient:innen einen Hauch Leichtigkeit in den Alltag zu bringen. «Singen hat sehr erstaunliche Effekte auf die Psyche und schüttet Glückshormone aus.» So singe sie den älteren Menschen in ihren Pausen oder während der Pflege jeweils ein Lied vor, bei dem sie mitsummen können. Es ist erstaunlich, was man mit Kleinigkeiten erreichen kann. Sie nennt ein Beispiel: «Vor kurzem habe ich mich um eine verschlossene, demenzkranke Frau kümmern müssen. Wir haben gemeinsam etwas getrunken und dann ein Lied zusammen gesungen. Am nächsten Tag nahm sie meine Hand und sagte mir: ‹Ich bin so froh, dass du da bist›.»

Doch selbst für diese Kleinigkeiten bleibe kaum Zeit. Und alljährlich würden die schönen Momente im Pflegeberuf seltener werden.

Die Abwanderung innerhalb der Branche bereitet Schmid am meisten Sorgen. «Vor allem junge Leute, die eine Lehre in der Pflege absolviert haben, kehren der Pflege gleich nach der Ausbildung den Rücken zu. Nach drei Jahren haben sie genug und suchen sich einen Job mit flexibleren Arbeitszeiten.»

«Wo bleibt da die Erholung?»

Dieser Exodus junger Menschen hat in Sandra Schmieds Augen nichts mit der heutigen Generation zu tun, der nachgesagt wird, sie sei faul und arbeitsscheu, sondern vor allem mit Erschöpfung. «Eine frisch diplomierte Pflegefachfrau beklagte sich kürzlich bei mir, sie arbeite oftmals sechs Tage die Woche – in unterschiedlichen Schichten: zweimal Frühdienst, dreimal Spätdienst, eine Nachtschicht. Wo bleibt da die Erholung? Das laugt einen komplett aus.»

Für Sandra Schmied ist klar: Das muss aufhören.

Dafür kämpft sie. Seit Jahren berichtet sie über die Schattenseiten ihres Berufsalltags und fordert Reformen. Deswegen musste die Bernerin auch schon bitter büssen: Zweimal sei ihr gekündigt worden, als sie bei ihren Arbeitgebern darauf hingewiesen habe, dass die Zustände in der Pflege nicht vertretbar seien. «Ich war ihnen zu laut, zu fordernd, das wurde bei der Kündigung natürlich anders ausgelegt.»

Unterkriegen liess und lässt sie sich deswegen nicht – im Gegenteil. Die Feministin weist auch auf Missstände hin, für die sie schon als rassistisch abgestempelt wurde. «Ich bin für Gerechtigkeit, darum muss ich auch unangenehme Thematiken ansprechen», sagt Schmied.

«Es ist leider so, dass Arbeitskräfte vom Ausland das Loch im Gesundheitssystem nicht füllen können. Erstens, weil es sich beim Pflegenotstand um ein globales Problem handelt. Die Pflegerinnen fehlen dann einfach woanders. Zweitens kommt es aufgrund der Sprachbarriere immer wieder zu Fehlern, beispielsweise bei der Herausgabe von Medikamenten. Und drittens fühlen sich viele ältere Menschen, die sonst schon Mühe haben, sich auszudrücken, durch die Kommunikationsschwierigkeiten nicht verstanden.»

«Ich höre nie ein Merci, sondern nur ein: Könntest du echt noch ...»

Für die komplexen Probleme gibt es für die Pflegerin einen zentralen Lösungsansatz: ein neuer Finanzierungsplan, der neue Arbeitsplätze schafft. Und um das Personal langfristig zu behalten, müssten bessere Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Der Lohn stehe dabei nicht im Vordergrund, sondern Wertschätzung und die Reduktion des psychischen Stresses.

«Der Beruf muss anerkannt, Überstunden oder kurzfristiges Einspringen unterbunden oder grosszügig ausbezahlt und Umkleidezeit angerechnet werden.» In Pflegeberufen müsse man sich täglich rund viermal umziehen, dafür benötige man rund 30 Minuten, die nicht als Arbeitszeit gezählt würden.

«Ich höre nie ein Merci, sondern nur ein: Könntest du echt noch ...?»

«Das frustriert.» Dennoch lohne sich der Kampf. «Wenn ich mich mit der Gewerkschaft austausche, dann merke ich, dass sich etwas bewegt. Ich spüre und sehe es einfach (noch) nicht.»

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95 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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PlusUltra
14.06.2023 10:18registriert Juni 2019
Ich finde die immer wiederkehrenden negativen Kommentare beschämend.

Ja, es ist kein reines Frauenproblem. Natürlich arbeiten auch Männer in der Pflege. Deshalb sollte man es eher Branchendiskriminierung nennen.
Fakt ist aber, dass diese Branche nicht das erhält, was sie sollte. Was traurig ist, da wir alle früher oder später mit ihr in Kontakt kommen.
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Atavar
14.06.2023 09:47registriert März 2020
Gut, dass sie sich einsetzt. Mutig, direkt die Verursacher anzusprechen. Ich hoffe Aktionstage ändern an den Arbeitsbedingungen etwas.

Allerdings: kein frauenspezifisches Thema. Die Branche ist schlecht alimentiert, weil entweder Gewinne gemacht werden sollen (und davon bitte jährlich mehr) oder Solidarkosten reduziert werden sollen (immer weniger wollen für Leistungen bezahlen, welche sie (noch) nicht selbst in Anspruch nehmen). Nicht weil da überwiegend Frauen arbeiten.
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The Rogue
14.06.2023 10:03registriert April 2020
Berechtigte Forderungen und bewundernswert wie sie dafür kämpft! Aber dies ist kein spezifisches Frauenthema auch männliche Pfleger sind davon betroffen. Es gibt auch männliche Pfleger welche Alimente abdrücken müssen und somit als working-poor Leben müssen. Diese werden hier irgendwie einfach ausgeklammert...
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