Die Internetnutzung erfüllt bei jungen Schweizerinnen und Schweizern ähnliche Funktionen wie eine Religion. Sie ist laut einer neuen Studie rituell, mit mythologischen Vorstellungen verknüpft und führt zu übermenschlichen Erfahrungen.
Zu diesem Schluss kamen Forschende der Universität Zürich (UZH) nach einer repräsentativen Befragung von Internetnutzerinnen und -nutzern, wie die Hochschule am Donnerstag mitteilte.
Wie traditionelle Religionen erfülle die alltägliche Nutzung digitaler Dienste Funktionen wie die Reduktion von Komplexität, Sinnstiftung oder sozialen Zusammenhalt, hiess es im Bericht.
Rund ein Drittel der Bevölkerung (30 Prozent) denkt laut der Umfrage zudem, dass vorgeschlagene Inhalte in sozialen Netzwerken oder Gesundheits- und Wohlbefinden-Apps von einer unerklärbaren, höheren Instanz gesteuert werden. Rund ein Viertel der Bevölkerung (27 Prozent) beginne und beende den Tag mit Internetnutzung, wie der Bericht zeigte. Zwischen zehn und 19 Prozent der Internetnutzerinnen und -nutzer berichteten von transzendenten Erfahrungen, mit denen die üblichen Grenzen des Alltäglichen überschritten werden.
Bei den Jüngeren seien die Hinweise auf eine digitale Alltagsreligion stärker ausgeprägt, so der Bericht. Vier von zehn (38 Prozent) der 14- bis 19-Jährigen gaben in der Befragung an, die regelmässige Nutzung dieser Dienste helfe ihnen, über ihre unmittelbaren Lebensumstände hinauszuwachsen. Über ein Drittel (36 Prozent) dieser Gruppe stimmte zu, dass ihnen die Nutzung ihrer bevorzugten digitalen Dienste geistigen Frieden verschafft.
Die Erkenntnisse sind Teil des World Internet Projects (WIP). Diese Langzeitstudie erfasst in 30 Ländern die Verbreitung und Nutzung des Internets. In der Schweiz werden die Befragungen seit 2011 jährlich durchgeführt.
Dabei zeigten sich auch Unterschiede in der Zeit, die Schweizerinnen und Schweizer im Netz verbringen. Seit der Covid-Pandemie hat sich diese laut dem Bericht deutlich gesteigert. Im Schnitt verbringen Personen in der Schweiz heute rund 5,5 Stunden pro Tag online. 2021 waren es noch 4,5 Stunden. Private Treffen finden hingegen wieder in ähnlichem Umfang wie vor der Pandemie nur selten online statt.
Eine weitere Erkenntnis der Befragung war, dass Künstliche Intelligenz in der Schweiz bereits weit verbreitet sei. Acht von zehn Internetnutzerinnen (79 Prozent) haben demnach bereits von Chatbots mit Künstlicher Intelligenz wie ChatGPT oder Bard gehört. Die Hälfte von ihnen (37 Prozent) hat sie auch schon ausprobiert, oder genutzt. «Die hohe Bekanntheit und Nutzung von ChatGPT und ähnlichen KI-Anwendungen ist überraschend, zumal sie erst seit Ende 2022 verfügbar sind», betont Studienleiter Michael Latzer in der Mitteilung.
Cyborg-Technologien, also etwa Pflaster zur elektronischen Stimulation des Gehirns oder in die Hand implantierte Chips zum Bezahlen, sind laut der Studie in der Schweiz hingegen kaum verbreitet. Jede zehnte Person (9 Prozent) gab aber an, dass sie an den Körper angebrachte Cyborg-Technologien nutzen möchte, sobald sie verfügbar und erschwinglich sind.
Insgesamt stehen dem Bericht zufolge jüngere Menschen und Männer diesen Technologien am optimistischsten gegenüber. Jüngere Menschen sind der Studie zufolge auch eher davon überzeugt, dass die neuen digitalen Technologien fast alle Probleme der Gesellschaft lösen können. So glauben dies rund 21 Prozent der 14- bis 19-Jährigen und vier Prozent der über 70-Jährigen. (rbu/sda)