Es ist bitterkalt auf dem Zuger Bundesplatz, der Nebel hängt tief. Dennoch steht Urs Wietlisbach an diesem Dienstagnachmittag im Januar draussen, um für die von ihm mitlancierte Kompass-Initiative gegen das neue EU-Rahmenabkommen zu werben. In knapp zwei Stunden wird er 19 Unterschriften gesammelt haben. Mehr als die anderen, die mit ihm hier sind.
Auch Marcel Erni weibelt in Zug mit dem Unterschriftenbogen. Alfred Gantner ist zur gleichen Zeit mit der gleichen Mission in Luzern unterwegs. Insgesamt wird das von den dreien gegründete Kompass-Komitee an diesem Nachmittag 150 Unterschriften mehr auf dem Konto haben. Mittlerweile sollen es rund 65'000 sein. Der Weg bis zu den 100'000 gültigen Unterschriften ist lang und anstrengend, und auf dem Zuger Bundesplatz mit seinem Coop-City-Warenhaus alles andere als glamourös.
Wietlisbach, Erni und Gantner müssten nicht auf der Strasse stehen oder durch die Säli ziehen. Sie hätten auch unter ihresgleichen bleiben und ihren Reichtum geniessen können, den sie mit der von ihnen gegründeten Investmentgesellschaft Partners Group erlangt haben. Gemäss «Bilanz»-Schätzungen ist jeder von ihnen 2,5 bis 3 Milliarden Franken schwer. Sie könnten etwa einen Fussballclub kaufen, wie es viele Reiche tun. Stattdessen tourten sie im Oktober und November durch 33 Städte, haben ihre Argumente jeweils vor 40, 50, 60 und in Zürich gar vor 300 Leuten präsentiert. «Das war schon mit Aufwand verbunden», erinnert sich Wietlisbach. «Ich habe einen Teil meiner Herbstferien dafür aufgewendet.»
Wieso also tun sie sich das an?
Am Anfang war ein Satz: «Wir müssen etwas tun!» Ausgesprochen hatte ihn Marcel Erni, der «belesenste» im Trio, wie Wietlisbach betont. Er hatte die 38 Seiten des ersten, mittlerweile überholten Rahmenabkommens studiert und dann seine zwei Kollegen zu sich ins Büro beordert. Danach haben sich auch die beiden anderen durch die besagten 38 Seiten gekämpft. «Es war ein haarsträubender Vertrag», sagt Wietlisbach. Dieser ist nun vom Tisch, die Neuauflage noch unter Verschluss. Mit der Kompass-Initiative, die ein obligatorisches Referendum für alle völkerrechtlichen Verträge fordert, sollen vorsorglich die Hürden erhöht werden. «Es ist ein gewichtiger Vertrag, ein massiver Eingriff. Deshalb braucht es ein Ständemehr.»
Lange habe er «in bester Economiesuisse-Manier» gegen die Kritik am Rahmenabkommen angekämpft, auch in seiner SVP-Familie, in die er 2021 «hineingeheiratet» hat, wie er es sagt. Anders als seine Frau, Simone Wietlisbach, die ihren Mann beim Unterschriftensammeln auf dem Zuger Bundesplatz kurz besucht, ist er aber parteilos. Er will es auch bleiben, wie er betont. Er habe keine Ambitionen, in die Politik einzusteigen.
Aber mitgestalten will er schon. Und das kann er auch. «Wer 10 Millionen Franken aufwirft und sich persönlich engagiert, kann in der Schweiz etwas bewegen», sagt Lukas Golder, Politologe und Co-Leiter des Instituts GFS Bern. «Das Initiativrecht schafft die Möglichkeit, jederzeit ein Thema auch gegen die politischen Eliten auf die öffentliche Agenda zu setzen.»
Einen anderen Weg eingeschlagen hat Simon Michel, Miteigentümer des Medtech-Unternehmens Ypsomed. Auch er könnte es – angesichts des von der «Bilanz» auf 5 bis 6 Milliarden Franken bezifferten Familienvermögens – ruhig angehen. Oder sich auf seinen Job als Ypsomed-Chef konzentrieren. Doch er hat zusätzlich eine Politkarriere eingeschlagen – und sich für die «Ochsentour» entschieden. Rund sieben Jahre sass er im Solothurner Kantonsparlament, bevor er 2023 den Sprung in den Nationalrat wagte.
Er sieht sich als die Antwort auf die Klagen aus der Wirtschaft, dass es kaum mehr Wirtschaftsführer im Parlament habe. «Unsere Grossväter haben sich in der Politik engagiert, unsere Väter haben damit aufgehört», sagte Michel zu CH Media ein paar Monate nach seiner Wahl in den Nationalrat. «Jetzt müssen wir halt wieder damit beginnen.»
Michel ist in Bundesbern mittlerweile zum Hauptredner der EU-Vertrags-Befürworter avanciert, zur Speerspitze gegen die Kompass-Initiative von Wietlisbach und Co. – und gegen Christoph Blochers SVP, die seit der EWR-Schlacht von 1992 einen europaskeptischen Kurs eingeschlagen hat. Ein politisches Erbe, das der 15 Milliarden Franken schwere Familienclan um Tochter und Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher weiterführt. Der Kampf um die «Bilateralen III» ist zu einem Kampf von Milliardären geworden. Beide Seiten beteuern, sie würden sich nicht aus Eigeninteressen engagieren, sondern für die Schweiz, die Menschen hier und ihren Wohlstand. Und beide Seiten sind von den politischen Verantwortlichen und den traditionellen Wirtschaftsverbänden enttäuscht.
Wietlisbach will nun selber etwas bewegen. Insbesondere in den Wirtschaftskreisen, in denen er verkehrt. Beim ersten Rahmenabkommen hätten von zehn Wirtschaftsleuten erst drei bis vier ihnen zugestimmt, erzählt Wietlisbach. Nun seien sieben von zehn auf ihrer Seite. Den Zuspruch erkennt er auch an den steigenden Mitgliederzahlen von Kompass Europa, die inzwischen auf 3580 Mitglieder geklettert ist.
Sein Widerstand macht den Widerstand salonfähig.
Der Feind vieler Neo-Politiker ist der Staat und seine Bürokratie, der Oberfeind ist die EU, die mit ihrem immer grösser werdenden Regelwerk der globalisierten Wirtschaft so etwas wie eine staatliche Ordnung entgegensetzen will. Dieser «ausufernden Regulierungswut» kann man in den Augen dieser neuen Politikerkaste nur noch mit der Kettensäge Herr werden, so wie es der Tesla-Lenker, «First Buddy» und reichste Mann der Welt, Elon Musk, gerade vormacht. Er stösst dabei auf mehr Widerstand als anfänglich gedacht, aber das Scheinwerferlicht, das er mit seinem Auftritt in der Politik auf sich gezogen hat, scheint unwiderstehlich zu sein.
Die Haltung erinnert an die Jahre vor der Finanzkrise, als die globalisierten Wirtschaftskapitäne mit unverhohlener Verachtung auf die kleine Berner Politik herunterschaute. So erinnern sich die Mitglieder einer Bundesratspartei noch heute gut an ein Spitzengespräch von 1998 mit dem damaligen UBS-Präsidenten Mathis Cabiallavetta – und wie dieser ihnen am frühen Morgen im Hotel «Bellevue» erklärte, dass sein Verwaltungsrat die Arbeit des Parlaments noch vor dem Frühstück besser und schneller erledigen könnte.
Doch anders als um die Jahrtausendwende sagen die Wirtschaftsleute heute nicht nur, dass sie es besser könnten. Sie treten selber an, um es besser zu machen. Die kleine Politik ist nun plötzlich wieder gross.
Zurück auf dem Zuger Bundesplatz: Die Finger sind klamm, die Sammlung wird erschwert durch den Skandal mit den gefälschten Unterschriften, der etwa zeitgleich mit der Lancierung der Kompass-Initiative publik geworden ist. «Das merken wir stark», sagt Wietlisbach. «Viele sagen, dass sie nie mehr etwas unterschreiben würden.» Trotzdem: Er und seine Mitstreiter wollen alles selber sammeln, bis zum Schluss.
Am Geld würde es nicht fehlen. Doch mit dem Unterschriftensammeln und der Roadshow verfolgen die Initianten noch ein anderes Ziel: Sie wollen ein Netz aufspannen von lokalen Komitees, die jetzt Sammeltage organisieren und später dann auch bereitstehen für den Abstimmungskampf über die Kompass-Initiative oder den EU-Deal. «Vorbild» ist ausgerechnet die Konzernverantwortungsinitiative, die mit ihrer Mobilisierung und Kampagnenkraft das Establishment aus Politik und Wirtschaft das Fürchten gelehrt hat.
Noch sind Wietlisbach und seine Mitstreiter nicht so weit. Aber der Anfang ist gemacht. Die Scheinwerfer leuchten.
Die Meinung und die Ziele des Volkes oder gar mögliche Vorteile für das Volk sind ihnen egal. Sie setzen sich ein und setzen Geld ein, um IHRE Anliegen zu schützen und zu erreichen.