Es ist eine an sich einfache Frage, doch sie lässt Gerhard Pfister sehr nachdenklich werden: Wer kennt ihn politisch gut und kann seine Motive umschreiben?
Der Mitte-Präsident schweigt, dann wird seine Stimme leiser. «Ich weiss es nicht», sagt er. «Das Präsidium ist eine einsame Angelegenheit.» Pause. «Ich habe auch schon einige Leute vor den Kopf gestossen.»
Er nennt Carlo Schmid, den ehemaligen Ständerat und CVP-Präsidenten aus Appenzell Innerhoden und Philipp Matthias Bregy, den Mitte-Fraktionschef. Und räumt ein: «Ich bin ein Einzelgänger. Das war ich immer schon.»
Das Geständnis steht in deutlichem Kontrast zum Bild, das Gerhard Pfister öffentlich abgibt: Er ist der Mann der Stunde. Mit der Mitte hat er die FDP bei der Wählerstärke bis auf 0.2 Prozentpunkte eingeholt und bei der Fraktionsstärke um fünf Sitze überholt. Sogar die linke «Wochenzeitung» schrieb, Pfister müsse nun in den Bundesrat, um die Vierermehrheit von FDP und SVP zu brechen.
Wer ist der Mann, der so eloquent auftritt und Interviews gibt mit ethisch-philosophischen Grundsatzüberlegungen und politisch-historischen Einschätzungen? Wo steht Gerhard Pfister politisch wirklich? Und wie ist seine Nähe zu Christoph Blocher zu werten?
Vor 2016 galt er in der CVP als Rechtsausleger, inzwischen präsentiert er sich mit der Mitte aber als soziales Gewissen der Schweiz. Als Präsident der CVP schaffte er das C nach vier Jahren im Schnellzugstempo ab, obwohl er noch 2016 gesagt hatte, er werde «alles unternehmen, damit der Name nicht geändert» werde.
Ist Gerhard Pfister ein Opportunist? Einer, der tief im Innern nur ein Ziel vor Augen hat: Bundesrat zu werden?
Auf die letzten Fragen kommen wir später zurück. Zunächst muss geklärt werden, wo Gerhard Pfister politisch zu verorten ist. Ein Blick in das Links-Rechts-Rating von Politgeograf Michael Hermann in der NZZ von 2015, im Jahr vor Pfisters Wahl zum CVP-Präsidenten, gibt deutliche Anhaltspunkte: Pfister lag damals mit Nationalrat Ruedi Lustenberger (LU) und dem damaligen Nationalrat Daniel Fässler (AI) am rechten Rand der CVP.
2023 sieht das anders aus. Pfister liegt praktisch genau auf der Mittelachse zwischen Links und Rechts - inmitten der Mitte-Fraktion, die sich ebenfalls in die Mitte bewegt hat: Sie gruppiert sich - deutlich kompakter - um die Achse.
Gerhard Pfister hat sich in acht Jahren vom liberal-konservativen Zuger CVP-Wirtschaftspolitiker zum sozial-konservativen Schweizer Mitte-Präsidenten entwickelt. «Wenn es bei mir politisch einen Wandel gab, dann den, dass ich realisierte: Diese Partei hat eine soziale Verantwortung», sagt Pfister heute. Er räumt ein, dass er diese Dimension «noch nicht wirklich» gesehen habe, als er Präsident geworden sei.
Es waren der verstorbene alt Nationalrat Jean-Philipp Maître und alt Ständerat Carlo Schmid, die Pfister für soziale Fragen sensibilisierten. Von Maître habe er 2004 erstmals gehört, wie wichtig sie für die CVP seien, erzählt Pfister. Maître wies in Diskussionen um eine Neuausrichtung der CVP darauf hin, das Soziale sei die Nische der CVP.
Auch Carlo Schmid pochte Pfister gegenüber mehrfach auf das Soziale. Selbst als er Präsident wurde. «Du wirst sehen», sagte er zu Pfister, «dass es in der Schweiz ganz viele Ecken gibt, die nicht so reich sind wie Zug.»
Durch solche Gespräche sei ihm bewusst geworden, sagt Pfister heute: «Das soziale Element kann die verschiedenen Flügel der Partei verbinden.» Mit der Fusion von CVP und BDP zur Mitte 2020 verstärkte er die Fokussierung auf den sozialen Kapitalismus.
Für die Gründung der Mitte spielt Christoph Blocher - indirekt - eine wichtige Rolle. Pfister empfand es als Anschauungsunterricht, wie dieser als reformierter Pfarrerssohn mit seiner SVP die katholische Innerschweiz eroberte. Und es faszinierte ihn, wie Blocher den stolzen Zürcher Freisinn auf seinem ureigensten Feld schlug - der Wirtschaft.
Die Herkunft unterscheidet Blocher und Pfister. Blocher war vom freisinnigen Establishment gedemütigt worden, weshalb er sich an der FDP rächte. Pfister selbst stammt aus katholisch-konservativem Haus und wuchs in einem Kanton auf, in dem die CVP Hausmacht war. Erst im Nationalrat bekam er den freisinnigen Führungsanspruch zu spüren, der bei der Mitte vielfach als Dünkel empfunden wird.
Das Jahr 1848 spielt in Pfisters Welt eine erstaunlich wichtige Rolle. Damals hatte der Freisinn den Sonderbundskrieg gewonnen, gründete die moderne Schweiz und liess die Katholisch-Konservativen erst 1891 in die Landesregierung. Pfister scheint nun Blocher unter umgekehrten Vorzeichen zu kopieren: Er will sich mit der Mitte in den reformierten Stammlanden etablieren. Das lässt sich als Kulturkampf 2.0 werten.
Dass es ihm ausgerechnet 175 Jahre nach der Gründung der modernen freisinnigen Schweiz gelang, die Mitte «wieder zum Erfolg zu führen» und die FDP einzuholen, erfülle ihn mit einer «gewissen Genugtuung», sagt er. «Man muss uns wieder etwas ernster nehmen.» Dass er mit «man» den Freisinn meint, ist offensichtlich. Möglich wurde das nur, weil er die C-Frage löste: Er gab der Partei einen neuen Namen.
Die Zwischenbilanz zeigt: Pfister entdeckte erstens als Präsident den sozialen Kapitalismus, löste zweitens die C-Frage und ist drittens vom Kulturkampf mit dem Freisinn geprägt.
Offen bleibt die Grundfrage: Ist es Pfisters Lebensziel, Bundesrat zu werden? Mit der Mitte ist er heute so nahe an einem zweiten Bundesratssitz wie nie seit 2003. Pfister weiss: Sollten Linke am 13. Dezember einen Versuchsballon starten und ihm im ersten Wahlgang bei der Wahl von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis 70 Stimmen geben, liegt es in seiner Hand, ob er Bundesrat wird oder nicht. Pfister kommt mit Grünen, SP, GLP und Mitte auf ein Potenzial von 133 Stimmen, Cassis mit FDP und SVP nur auf 113 Stimmen.
«Es war nie mein innerer Antrieb, Bundesrat zu werden, auch jetzt nicht», sagt Pfister selbst. «Ich bin längst nicht so versessen darauf, wie viele mir das unterstellen.» Und doch will er einer Kandidatur keine klare Absage erteilen: «Ich beantworte diese Frage erst, wenn sie sich auch wirklich stellt.»
Die Bundesratsfrage bleibt damit unklar. Recherchen zeigen: Pfister hat eine Bundesratskandidatur der Mitte für den 13. Dezember 2023 gegen den Freisinn im Parteipräsidium und anschliessend im Fraktionsvorstand tatsächlich zum Thema gemacht. «Gibt es dafür eine Kandidatur?», soll er gefragt haben - und Schweigen geerntet haben. Damit war das Thema erledigt.
Fraktionsmitglieder sehen in Pfister den «besten Parteipräsidenten», der den «tiefen Ehrgeiz» habe, zu gewinnen, wie Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter sagt. Ständerat Erich Ettlin analysiert ihn als «intrinsisch motiviert». Pfister sei «ein Zoon Politicon», sagt er. «Politik ist das Elixier für ihn.» Um als Mensch ein soziales und politisches Lebewesen im Sinne des Philosophen Aristoteles zu sein, braucht Pfister keinen Bundesratstitel. So viel ist klar.
Mitte-Nationalrat Markus Ritter glaubt, Pfister spiele geschickt mit dem Etikett Bundesrat. «Aufgrund seiner strategischen Fähigkeiten dürfte er höhere Ziele anstreben», sagt er. «Er ist ein Denker und will Grosses schaffen - und das System verändern. Ich sehe Gerhard Pfister eher als Martin Rosenberg 2.0.»
Rosenberg, der ehemalige CVP-Generalsekretär, hatte in den 1950er- Jahren die Zauberformel 2-2-2-1 für den Bundesrat erfunden: FDP, CVP und SP erhielten je zwei Sitze, die SVP einen. Heute ist diese Zauberformel obsolet. Pfister macht sich Gedanken darüber, wie sich eine neue etablieren lässt, seinem dreistufigen Modell entlang: links und rechts ein Pol - und die Mitte als Anker im Zentrum.
2027 will er der FDP den zweiten Sitz abringen. «Ihr könnt den Baum hinaufklettern, um den Apfel zu pflücken», pflegt er intern zu sagen. Damit meint er 2023. «Oder ihr könnt warten, bis der Apfel herunterfällt.» Und spricht implizit von 2027.
Um in den nächsten vier Jahren substanziell zuzulegen, steht der Präsident aber vor grossen strategischen Herausforderungen. Er muss den internen Kulturwandel vorantreiben. «Wir haben viele stillschweigende Regeln», sagt er dazu: «Man macht, was man will; man ist nett miteinander; man streitet nicht so richtig über politische Differenzen; aber hintenherum streitet man erst recht über Nebensächlichkeiten.»
Dass er damit vor allem die Ständeratsmitglieder anspricht, ist offensichtlich. Trotz eines Fraktionsbeschlusses opponierten sie gegen einen Gegenvorschlag zur Prämienverbilligungsinitiative. Es droht ihm ein Grundsatzkonflikt: Pfister plädiert für markante Positionen, welche die Mitte erkennbar machen. Bauernpräsident Ritter aber sagt: «Hier haben wir unterschiedliche Aufgaben. In meiner Rolle brauche ich Mehrheiten in beiden Kammern, um an das Ziel zu kommen. Diese Lösungen müssen letztendlich machbar und finanzierbar sein.»
Beim Versuch, die Fraktion besser auf Linie zu bringen, kann Pfister eine Schwäche in die Quere kommen. Fraktionsmitglieder sagen, es gelinge ihm nicht, die Ständeräte abzuholen, weil er ihnen die Anerkennung nicht gebe, die sie erwarteten. Das kann man aber auch als Selbstgefälligkeit der Ständeratsmitglieder werten.
Gerhard Pfister ist als Mensch nicht immer einfach. Er kann aufbrausend sein, cholerisch sogar, grusslos vorbeimarschieren. Wer es mit ihm verdirbt, bekommt kaum eine zweite Chance. Das sorgt, erzählt man sich, gerade bei Frauen immer wieder für Tränen.
Der Mitte-Präsident, ein einsamer Hirte. Besonders eng steht ihm nur Generalsekretärin Gianna Luzio. «Sie ist für mich intellektuell wichtig, sie ist analytisch sehr stark und sie hat, wie ich, einen ausgeprägten Führungswillen», sagt er. «Ich brauche Leute, mit denen ich etwas entwickeln kann.» Zudem begleite sie ihn kritisch-wohlwollend. Kritik von ihr akzeptiert er.
Nahe ist ihm auch Philipp Matthias Bregy, der Fraktionschef der Mitte. Dieser empfindet persönlich die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten als «sehr angenehm». Pfister sei «ein blitzgescheiter Mensch», der Situationen sehr schnell erfasse. «Er fordert heraus, setzt Tempo auf.» Er wolle die Partei «auf die Gewinnerstrasse» bringen.
Dass Pfister nicht gesellig sein kann, ist aber eine Mär. Jede Session klopft er im Berner Restaurant Zimmermania seinen Jass bei einem Glas Wein und gutem Essen. Sein Jasspartner ist Steuerexperte Erich Ettlin (OW). Gegner sind Ständerätin und Kommunikationsberaterin Marianne Binder (AG) und der bisherige Ständerat und Käsermeister Othmar Reichmuth (SZ). Reichmuth muss nun ersetzt werden. Er wurde abgewählt. Ein Wermutstropfen für den Mann der Stunde. (aargauerzeitung.ch)