Das wichtigste Instrument vieler Glaubensgemeinschaften und Sekten ist die Moralkeule, dicht gefolgt von der Strategie von Schuld und Sühne. Diese Disziplinen sind – gepaart mit dem Absolutheitsanspruch – toxisch und antiquiert. Ausserdem dienen sie der Indoktrination und Unterdrückung der Gläubigen.
Diese Ingredienzien erweisen sich heute für viele religiöse Bewegungen und Gruppen PR-mässig als eine mittlere Katastrophe. Sie verlieren in hedonistischen Zeiten, in denen individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung gefragt sind, an Attraktivität und Glaubwürdigkeit.
Deshalb erwachen viele Religionsführer aus einem bunten Traum der Macht, der die Farben verloren hat. Die Fassade ihres Heilsgebäudes bröckelt, ihre Autorität als Hüter von Moral und Ethik schmilzt. Sie klagen das Leid ihrem göttlichen Meister, der aber ähnlich hilflos ist wie sein Bodenpersonal.
Bei der Erforschung der Ursachen suchen sie überall, nur nicht dort, wo die Gründe liegen. Diese stecken in ihrer DNA und nicht beim desinterssierten Publikum: In der moralinsauren Heilslehre, in den autoritären Strukturen, dem Absolutheitsanspruch und den unrealistischen Jenseitsversprechen.
Beispiele gefällig? Bitte sehr.
Das Schuldbekenntnis der katholischen Kirche lautet: «Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine grosse Schuld. Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, alle Engel und Heiligen und euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn.»
Wie gross muss die religiöse Verblendung der Kirchenfürsten gewesen sein, als sie diese Moralkeule zu Papier brachten und alle Gläubigen kollektiv zu Sündern stempelten? Es ist ebenso anmassend wie beleidigend. Und eine Beschimpfung der Kirchenmitglieder.
Bei Scientology klingt es so: «Die Welt hat optimistisch gesehen noch fünf Jahre übrig, pessimistisch gesehen noch zwei. Danach gibt es einen Knall oder vielleicht nur noch Gewinsel. Eine Handvoll von uns arbeiten sich halb zu Tode, um es zu schaffen. (…) Die einzige winzige Chance, die dieser Planet hat, lastet auf ein paar schmalen Schultern – überarbeitet, unterbezahlt und bekämpft – die Scientologen. (…) Wir haben dich lieber tot als unfähig.»
Diese moralischen Ansprüche und elitären Phrasen formulierte der Sektengründer Ron Hubbard.
Sie erinnern an den radikalen Islam. Die Mullahs motivieren die Gläubigen, als Krieger ihr Leben Allah zu widmen und für den Gottesstaat zu kämpfen. Als Belohnung wird ihnen beim Tod die Gnade der Märtyrer versprochen: Der direkte Abflug ins Paradies, wo 72 Jungfrauen mit gespreizten Beinen sehnlichst auf die Helden warten. (Es stellte sich die Frage, wo Allah dieses Heer benötigter keuscher Frauen hernimmt. Modelliert er sie laufend aus Lehm und haucht ihnen das Leben ein?) Was für ein perverses Glaubensverständnis, das wohl nur gehirngewaschene Muslime ernst nehmen können.
Moralinsauer kommt auch die Esoterik daher, in die viele Christen flüchten, die sich von der Kirche abgewandt haben. Das zentrale Dogma von Ursache und Wirkung ist eine moderne Form von Schuld und Sühne. Oder ein Synonym für den Spruch: «Was man sät, das erntet man.» Übersetzt heisst das: Für jede unmoralische Handlung erhält man die Quittung. Also eine Strafe. Fragt sich nur, wer diese anordnet und durchführt.
Dieser Glaube ist ein Mythos. Ein Beispiel: Viele Diktatoren und Autokraten können ein Volk jahrzehntelang knechten und Kritiker foltern, ohne je zur Rechenschaft gezogen zu werden. Esoteriker und Anhänger fernöstlicher Religionen werden einwenden, die «Sünder» erhielten ihre gerechte Strafe im nächsten Leben oder beim Jüngsten Gericht.
Es braucht allerdings eine gehörige Portion an einen märchenhaften Glauben, um die religiöse These von Himmel und Hölle ernst nehmen zu können.
Glaubensgemeinschaften und Sekten müssten ihre moralischen Ansprüche über Bord werfen, um wieder attraktiv für ein breites Publikum zu werden. Denn die modernen psychologischen und pädagogischen Erkenntnisse zeigen klar, dass man mit moralischen Konzepten aus Sündern keine Heiligen machen kann.
Die Erfahrungen der Justiz dokumentieren es: Die Resozialisation von Straftätern ist die beste Strategie, dass sie nach der Entlassung wieder Tritt fassen und nicht wieder straffällig werden.
Die Krux der Glaubensgemeinschaften besteht also darin, dass sie ihr Grundkonzept nicht modifizieren und der Lebenswirklichkeit der modernen Menschen anpassen können. Sie sind in ihrem Absolutheitsanspruch gefangen und müssen ihren antiquierten Glaubensinhalten treu bleiben.
Somit werden sie Gefangene ihres eigenen Glaubens, der sie letztlich in die Bedeutungslosigkeit treibt. Die verzweifelten Retouchen, die sie vornehmen, sind bestenfalls lebensverlängernde Massnahmen. Palliativ Care der religiösen Art.