Frau Trede, Sie sind für die Biodiversitätsinitiative. Weshalb?
Aline Trede: Der Zustand der Biodiversität in der Schweiz ist schlecht. Wir vergessen immer, dass es auch in der Biodiversität Kipppunkte gibt. Wenn die Mücke ausstirbt, sterben bald auch alle Vögel, Frösche und Fische aus, die diese Mücke gefressen haben. Dann folgen jene, die auf jene Frösche und Fische angewiesen waren, und so weiter. Es ist wie Domino. Irgendwann haben wir einen Punkt erreicht, wo sich dieses Aussterben nicht mehr aufhalten lässt. Unsere Lebensgrundlage hängt von der Biodiversität ab.
Herr Ritter, Sie sind gegen die Biodiversitätsinitiative. Aus welchen Gründen?
Markus Ritter: Aus drei Gründen. Erstens bin ich der Meinung, dass es diese Verfassungsergänzung nicht braucht. Wir haben mit Artikel 78 in unserer Bundesverfassung bereits einen sehr detaillierten Artikel für Natur- und Heimatschutz. Zweitens will man mit dieser Initiative sehr viel Kulturland brauchen. Folglich würde die Lebensmittelproduktion in der Schweiz zurückgehen und wir müssten mehr Lebensmittel importieren – das ist nicht der richtige Weg. Und drittens: Diese Initiative geht viel zu weit. Deshalb sagen wir der Biodiversitätsinitiative auch «Verhinderungsinitiative».
Trede: Die Biodiversitätsinitiative ist auf keinen Fall eine «Verhinderungsinitiative». Es geht um Schutz. Den Schutz unserer Lebensgrundlage.
Ritter: Es ist eine «Verhinderungsinitiative» wegen der Buchstaben A und B im vorgeschlagenen Gesetzesartikel. In diesen geht es gar nicht um die Biodiversität, sondern um Landschaftsschutz, Ortsbildschutz, historische Stätten, das baukulturelle Erbe. Diese Initiative öffnet so Tür und Tor, dass man nichts mehr bauen darf, nicht einmal erneuerbare Energien ausbauen kann, obwohl sich das Stimmvolk mit dem Stromgesetz gerade erst dafür ausgesprochen hat. Das ist das, was uns Sorgen bereitet.
Das heisst, für den Buchstaben C, der die Biodiversität betrifft, wären Sie zu haben?
Ritter: Nein, auch den Buchstaben C braucht es nicht. Artikel 78 in unserer Bundesverfassung reicht völlig aus.
Trede: Er reicht eben nicht aus! Der bisherige Verfassungsartikel hat es nicht geschafft, dass wir uns ausreichend für die Biodiversität einsetzen. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass der Wille fehlt. Deshalb ist es wichtig, dass die Biodiversität in unserer Verfassung festgehalten ist. Sonst passiert nie etwas.
Ritter: Wäre es den Initianten wirklich um die Biodiversität gegangen, hätten sie diese nicht erst an dritter Stelle erwähnt. Der Fokus dieser Initiative liegt also ganz klar nicht auf der Biodiversität, sondern auf der Raumplanung.
Trede: Es ist interessant, wie sich dein Narrativ verändert, Markus. Ich habe deine Rede im Parlament nochmals gelesen, als es um die Biodiversitätsinitiative ging. Da hast du sehr viel aus Sicht des Tourismus und der Landwirtschaft argumentiert. Jetzt liegt dein Fokus plötzlich auf diesen Buchstaben A und B.
Ritter: Das liegt daran, dass ich im Parlament als Präsident der Bauern spreche. Das waren die Argumente des Bauernverbands. Jetzt sind wir aber im Abstimmungskampf. Jetzt spreche ich zur Bevölkerung und im Namen des gesamten Nein-Lagers.
Trede: Im Parlament redest du nicht zur Bevölkerung?
Ritter: Nein, da rede ich als Bauernpräsident.
Trede: Ok. Spannend.
Ritter: Die Biodiversitätsinitiative ist einfach zu extrem. Vor allem, wenn man die Flächenziele der Initianten anschaut.
Sie sprechen von den ominösen 30 Prozent unserer Landesfläche, welche die Biodiversitätsinitiative gemäss den Gegnerinnen und Gegnern zu Schutzzonen machen will. Im Initiativtext ist allerdings nirgends die Rede von diesem 30-Prozent-Ziel.
Ritter: Das stimmt, das steht nicht in der Initiative.
Warum argumentieren Sie dann damit?
Ritter: Ein Teil der Initianten – vor allem Pro Natura – fordert klar, dass die Schweiz 30 Prozent ihrer Fläche zu Schutzzonen macht. Das heisst für mich: Man will mit der Biodiversität implizit das 30-Prozent-Ziel erreichen.
Trede: Es ist wichtig zu sagen, woher alle dieses 30-Prozent-Flächenziel haben. Die 30 Prozent sind ein international vereinbartes Ziel, dem sich die Schweiz 2022 verschrieben hat. Zwar wurde dieses Ziel nicht ratifiziert, es ist also nicht verbindlich. Die Wissenschaft ist sich jedoch einig, dass wir – um unsere Biodiversität zu schützen – bis 2030 30 Prozent der weltweiten Landes- und Meeresflächen wirksam unter Schutz stellen sollten.
Also hat dieses 30-Prozent-Flächenziel doch etwas mit der Biodiversitätsinitiative zu tun?
Trede: Direkt nicht. Die Initiative beinhaltet keine Zahl! Nochmals: Es geht darum, die Biodiversität in die Verfassung aufzunehmen, um unsere Lebensgrundlage zu schützen.
Ritter: Wenn das Bundesgericht feststellt, dass die Bevölkerung mit so einer Initiative die Schutzziele stark gewichtet, wird es das Verbandsbeschwerderecht strenger auslegen und anwenden, befürchte ich. Dann können wir praktisch nichts mehr machen, weil einfach immer ein Verband Beschwerde einlegen und ein Bauprojekt oder ein Projekt für erneuerbare Energien lahmlegen kann. Mit der Biodiversitätsinitiative will man das Verbandsbeschwerderecht erweitern.
Trede: Davon steht doch überhaupt nichts in der Initiative!
Ritter: Es steht, «schutzwürdige» Landschaften müsse man erhalten. Was ist schutzwürdig? Darüber lässt sich streiten. Diese Unsicherheit können die Verbände nutzen, um Projekte zu verhindern.
Gemäss Initiativtext würden nicht Gerichte und auch nicht Verbände darüber entscheiden, was als «schutzwürdig» gilt, sondern der Bund und die Kantone. Weil sie die Schutzzonen bestimmen würden.
Trede: Genau.
Sprechen wir über Geld. Bereits jetzt gibt der Bund 600 Millionen Franken im Jahr für die Förderung der Biodiversität aus. Mit der Initiative wird es noch teurer. Der Bund rechnet mit 400 Millionen Franken mehr pro Jahr. Woher soll dieses Geld kommen, Frau Trede? Und was macht Sie so sicher, dass dieses zusätzliche Geld bei der Biodiversität einen Unterschied machen wird?
Trede: Es gibt seit 2012 eine Biodiversitätsstrategie des Bundes und seit 2017 einen «Aktionsplan Biodiversität». Ich finde, beides ist völlig ungenügend oder teilweise überhaupt nicht umgesetzt worden. Bundesrat Albert Rösti wartet mit der zweiten Etappe des «Aktionsplans Biodiversität» diese Abstimmung ab, was für mich heisst: Der Bund will nichts tun. Und damit sind wir wieder am Anfang, beim fehlenden Willen.
Jetzt haben Sie meine Frage aber noch nicht beantwortet.
Trede: Ah, welche war es nochmal?
Warum sollten zusätzliche 400 Millionen Franken pro Jahr nun ein «Gamechanger» sein? Zumal die Initiative ja gar keine konkreten Massnahmen festhält.
Trede: Diese Investitionen sind nötig. Wenn wir bis 2050 nichts tun, würde uns das 14 bis 16 Milliarden Franken kosten, um unsere Biodiversität wieder auf ein gesundes Niveau zu bringen. Das hat der Bund berechnet. Ich bin sicher, es wird noch teurer, wenn wir alle Folgekosten einrechnen. Wenn wir nur schon selbst für die Bestäubung zuständig wären, weil alle Bienen ausgestorben wären, würde das Kosten in dreistelliger Millionenhöhe verursachen.
Ritter: Also zuerst einmal: 600 Millionen Franken, das ist viel Geld, das der Bund jetzt schon in die Hände nimmt. Zudem ist die finanzielle Lage des Bundes, wie wir wissen, angespannt. Es ist momentan eine Herkulesaufgabe, den Bundeshaushalt schuldenbremsenkonform zu gestalten. Und was die Insekten angeht: Da haben wir – gerade bei den Bienen – in den letzten Jahren eine sehr positive Entwicklung gehabt. Ich bin selbst seit 40 Jahren Imker und sehe, wie ganz viele Junge anfangen mit dem Imkern. Das freut mich extrem.
Mehr Honigbienen sind das eine. Verschiedene Wildbienenarten sind trotzdem vom Aussterben bedroht.
Ritter: Ja, das stimmt. Die Honigbienen verdrängen sogar ein bisschen die Wildbienen, besonders in den Städten.
Dann stimmen Sie zu: Honigbienen sind kein repräsentatives Beispiel für den Stand unserer Insekten?
Ritter: Von einem systematischen Sterben der Insekten kann trotzdem nicht die Rede sein. Das können wir nicht nachweisen – und ich betone: nachweisen. Das heisst nicht, dass sich die verschiedenen Insektenarten unterschiedlich entwickeln können. Aber wir können einfach nicht quantifizieren, wie stark die Insekten wirklich zurückgehen.
Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) monitort das Insektensterben in der Schweiz seit 20 Jahren. Es schreibt: «Die Bestände sind stark rückläufig. Am stärksten betroffen sind die Insekten des Landwirtschaftsgebietes, gefolgt von Arten der Gewässer. Von den aktuell 1153 im Rahmen der Roten Listen bewerteten Insektenarten sind fast 60 % gefährdet oder potenziell gefährdet.»
Trede: Du bist doch Autofahrer. Ich ja nicht. Ich kann mich aber noch ans Autonummernschild meiner Eltern erinnern, als ich ein Kind war. Das muss jetzt sicher 30 Jahre her sein. Dieses weisse Nummernschild war nach langen Fahrten praktisch schwarz. So viele tote Insekten klebten darauf. Heute sehe ich das nirgends mehr. Weil wir zu wenig Insekten haben. Weil der Bestand dermassen zurückgegangen ist.
Ritter: Es hat aber auch dreimal mehr Autos. Der Verkehr hat so stark zugenommen.
Trede: Dann glaubst du, die gleiche Menge Insekten verteilt sich jetzt einfach auf mehr Autos?
Ritter: Als ich 18 Jahre alt war, hatten wir im Kanton St.Gallen 170’000 Autos. Jetzt haben wir 500'000.
Trede: Ja, aber der Bestand der Insekten hat abgenommen. Und zwar massiv. Das lässt sich doch nicht leugnen. Es handelt sich um 70 Prozent weniger Masse in den letzten 30 Jahren. Das ist das grösste Artensterben seit den Dinosauriern.
Ritter: So schlimm, wie es Frau Trede sagt, steht es nicht um die Biodiversität.
Trede: Der Stand unserer Biodiversität in der Schweiz, der bereitet dir keine Sorgen, Markus?
Ritter: Stellst du jetzt hier die Fragen, Aline?
Trede: Ja, ich muss! Unsere Lebensmittelproduktion hängt doch so sehr von der Biodiversität ab. Wir alle hängen von ihr ab. Aber als Erstes die Landwirtschaft. Euch müsste die Biodiversität doch auch wichtig sein!
Wieso müssen denn immer die Bäuerinnen und Bauern alles richten, Frau Trede? Könnten nicht die Städte mehr Verantwortung übernehmen?
Trede: Wir haben im Parlament mit dem Gegenvorschlag versucht, die Städte und Agglomerationen mehr in den Fokus zu nehmen und die Landwirtschaft wegzulassen. Denn es stimmt: In den Städten und Agglomerationen haben wir ein riesiges Potenzial – und ich dachte, da sind wir uns einig, Markus. Darum verstehe ich nicht, warum du uns nicht mehr geholfen hast beim Versuch, die Städte und Agglomerationen stärker in die Pflicht zu nehmen. Du warst gegen den Gegenvorschlag.
Ritter: Weil unser vorhandener Verfassungsartikel die Förderung der Biodiversität der Städte ja jetzt schon zulässt. Ich will nicht werten, aber gerade Zürich, Bern, Basel, St.Gallen, Lausanne, Genf – das sind alles linksgrün regierte Städte. Die könnten sich doch dazu durchringen, die Biodiversität stärker zu fördern.
Trede: Also Bern hat eine sehr gute Biodiversitätsstrategie. Man ist auf dem richtigen Weg.
Ritter: Das ist gut. Ich unterstütze das. Aber nochmals: Dafür braucht es ja offensichtlich keinen zusätzlichen Verfassungsartikel.
Trede: Aber die Kantone könnten auch mehr machen.
Ritter: Brauchen dafür aber – nochmals – keinen zusätzlichen Verfassungsartikel!
Trede: Ja, aber warum machen sie es dann nicht?
Ritter: Es braucht dafür eben den notwendigen Willen. Und wenn der Wille nicht da ist –
Trede: Ha! Da haben wir’s!
Das BAFU hält fest: Die Hälfte unserer Lebensräume ist gefährdet oder bereits verschwunden. Ein Drittel unserer Tier- und Pflanzenwelt ist vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben. Was sagen Sie zu diesen Erkenntnissen, Herr Ritter?
Ritter: Wir haben heute 19 Prozent Biodiversitätsförderflächen auf dem Kulturland. Das ist dreimal mehr als wir haben müssten. Dadurch haben wir in den letzten 25 Jahren zu einer positiven Entwicklung der Biodiversität in der Schweiz beigetragen. Der eingeschlagene Weg stimmt.
Trede: Das stimmt jetzt nicht alles, was du hier sagst. Wissenschaftlich kann man die Aussage «Die Mehrheit der ganzen Biodiversität in der Schweiz hat sich positiv entwickelt» gar nicht machen. Zum jetzigen Zeitpunkt versuchen wir einfach zu verhindern, dass sich die Biodiversität noch verschlechtert. Eigentlich müssten wir auch aktiv dafür sorgen, dass sie wieder zunimmt. Aber davon sind wir heute weit entfernt.
Kommen wir zur letzten Frage: Die Ja- und Nein-Lager haben sich früh gegenseitig dazu ermahnt, im Abstimmungskampf fair miteinander umzugehen. Ist das aus Ihrer Sicht gelungen?
Ritter: Ich habe vielleicht ab und zu einen bösen Brief oder eine böse Mail erhalten. Aber das war alles noch im Rahmen. Nichts mit Todesdrohungen oder so. Bis jetzt finde ich den Abstimmungskampf korrekt. Der Initiativtext ist natürlich weniger provokativ formuliert als damals bei der Pestizidinitiative, wo auf unserer Seite fast Existenzängste da waren.
Trede: Ja, wir gehen bis jetzt recht fair miteinander um. Wir zwei sind ohnehin immer fair miteinander, gell, Markus?
Ritter: Immer!
Trede: Bei der Trinkwasserinitiative mussten am Schluss zwei, drei Personen aus unserer Fraktion unter Polizeischutz gestellt werden. Ich bin überzeugt, dass das diesmal nicht nötig sein wird.
Bei den Abstimmungsplakaten des Nein-Lagers fallen folgende Parolen auf: «Nein zur linksextremen Biodiversitätsinitiative» oder «30 % Fläche weg? Tschüss Schweizer Lebensmittelproduktion!». Sind das faire Argumente, Herr Ritter?
Trede: Das ist Teil eurer Kampagne?
Ritter: Ja, das sind unsere Argumente.
Trede: Aber 30 Prozent, das ist nicht Teil der Initiative. Was auf den Plakaten steht, ist faktisch falsch. Ist das nicht ein bisschen irreführend, Markus?
Ritter: Nein, nein. Für uns haben diese 30 Prozent sehr wohl etwas mit der Biodiversitätsinitiative zu tun. Wie gesagt: Pro Natura, eine der Hauptinitianten der Initiative, forderte in einer Medienmitteilung letzten Dezember 30 Prozent.
Herr Ritter, also jetzt nochmals die Frage: Finden Sie es fair, wenn Sie mit Zahlen argumentieren, die nirgends in der Initiative stehen?
Ritter: Ja, weil man diese Zahl wirklich mehrfach ableiten kann. Wir haben sie nicht erfunden.
Trede: Ich finde das nicht fair.
Es geht denen nicht um Argumente, sondern wie sie die Initiative abschiessen.
Nun werde ich FÜR die Initiative stimmen.