«Droits de l'Homme» heisst die Tram- und Bushaltestelle am Ufer des Flusses Ill in Strassburg. Der Name ist Programm: Hier steigt aus, wer zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) will, als Mitarbeiter, Besucher oder Kläger. Seit 1995 residiert er in einem eigenwilligen Gebäude des britischen Stararchitekten Richard Rogers, mit etwas Fantasie kann man darin die Waage der Justizia erkennen.
Der EGMR ist in letzter Zeit vermehrt unter Beschuss geraten, nicht zuletzt in der Schweiz. Dazu haben kontroverse Urteile beigetragen wie jenes im Fall einer afghanischen Flüchtlingsfamilie. Die Schweiz dürfe sie nicht nach Italien ausschaffen, weil dort eine menschenwürdige Unterbringung nicht garantiert sei, entschied die Grosse Kammer des Gerichtshofs im November.
Solche Urteile sind Wasser auf die Mühlen der SVP. «Fremde Richter» gehören zu ihren liebsten Feindbildern. Sie hat eine Volksinitiative beschlossen, mit der sie Landesrecht über Völkerrecht stellen will. Indirekt strebt die SVP die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) an. Die Schweiz trat ihr vor genau 40 Jahren bei, sie bildet die Grundlage für die Rechtsprechung des EGMR.
Als Reaktion auf die Attacken von rechts wurde vor einem Jahr der Verein Dialog EMRK gegründet. Er hat aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums des EMRK-Beitritts die Informationskampagne «Schutzfaktor M» gestartet und eine Gruppe von Journalisten zum Besuch des EGMR in Strassburg eingeladen. Damit nicht genug der Symbolik: Die Visite fand auch noch am 10. Dezember statt, dem internationalen Tag der Menschenrechte.
Über den EGMR kursieren viele Klischees. Häufig wird er mit dem EU-Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg verwechselt. Doch er ist dem Europarat angeschlossen, dem 47 Mitgliedsländer angehören. Ein ständiges Gericht ist er erst seit 1998, weil nach dem Beitritt der ehemaligen Ostblockstaaten die Beschwerdeflut enorm angestiegen war. Bis vor wenigen Jahren betrug der Pendenzenberg 160'000 Fälle. In einem Kraftakt konnte er halbiert werden, doch er ist immer noch gewaltig. Und praktisch im Minutentakt kommen im Postbüro des Gerichtshofs neue Briefe an.
Jedes Mitglied des Europarats stellt einen Richter oder eine Richterin, das riesige Russland ebenso wie die Ministaaten Andorra, Monaco und San Marino. Die Schweiz hat genau genommen zwei, ihre offizielle Vertreterin Helen Keller und Mark Villiger, der vom Fürstentum Liechtenstein entsandt wurde. An die Adresse der Richter gibt es viele Vorwürfe: Sie würden zu oft nach politischen statt fachlichen Kriterien nominiert, die EMRK zu dynamisch auslegen, zu wenig Rücksicht auf die Mitgliedsländer nehmen und auf Kritik dünnhäutig reagieren.
Der Augenschein in Strassburg zeigt, dass der letzte Punkt nicht aus der Luft gegriffen ist. Dennoch hat man Verständnis, denn die Richter haben eine «unmögliche» Mission: In der Heimat verlangt man häufig, dass sie die Interessen ihres Landes vertreten. Doch ihre Aufgabe ist es, die Einhaltung der Menschenrechtskonvention zu beurteilen, ohne Rücksicht auf nationale Befindlichkeiten. In einem solchen Sandwich kann es ungemütlich werden.
98 Prozent aller Beschwerden gegen die Schweiz werden vom EGMR gar nicht behandelt. Wird die Schweiz jedoch einmal verurteilt, gibt es Zoff, vor allem wenn es sich um Fälle aus dem Asylbereich handelt. Daran ist die Schweiz mitschuldig: Sie hat die Asylverfahren dermassen gestrafft, dass der Weg nach Strassburg kurz geworden ist. Deutschland hat im Vergleich mehr Beschwerdeinstanzen und entsprechend wenige Asylfälle am EGMR.
Massgeblich an dieser Entwicklung beteiligt war die SVP mit ihren stetigen Forderungen nach einer schärferen Asylpolitik. Ihre Kritik am Strassburger Gericht wirkt vor diesem Hintergrund scheinheilig. Etwas polemisch formuliert: Die Schweiz schiebt die «heissen Eisen» nach Strassburg ab und lässt den Gerichtshof die Prügel einstecken, wenn sie von ihm verurteilt wird.
Die Schweizer Delegation beim Europarat bemüht sich immerhin um Reformen: Der EGMR soll sich weniger um Einzelfälle kümmern und somit als zusätzliche Berufungsinstanz fungieren, sondern sich primär auf systemische Probleme bei der Anwendung der Menschenrechtskonvention in den Mitgliedsstaaten konzentieren. Doch wo endet der Einzelfall und wo beginnt das Systemproblem? Exemplarisch für diese unscharfe Trennlinie steht ein Fall, der am Mittwoch vor der Grossen Kammer des EGMR behandelt wurde.
Khalaf al-Dulimi, mutmasslicher Finanzchef des irakischen Geheimdienstes unter Diktator Saddam Hussein, hat die Schweiz verklagt, weil sie nach der Invasion von Kuwait 1990 seine Vermögenswerte eingefroren hat, basierend auf einer Resolution des UNO-Sicherheitsrats. Auf den ersten Blick ein simpler Rechtsstreit, doch es geht um eine Frage von globaler Dimension: Steht die UNO-Charta als «Verfassung» der Vereinten Nationen über der EMRK als «regionales» Vertragswerk?
Sein Recht auf ein faires Verfahren gemäss Artikel 6 der EMRK sei verletzt worden, klagt al-Dulimi, weil die UNO ihn auf eine schwarze Liste gesetzt habe, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Die Schweiz dagegen betont den Vorrang der UNO-Charta. Sie wurde in der Anhörung vom Mittwoch von Frankreich und Grossbritannien unterstützt, den europäischen Vetomächten im UNO-Sicherheitsrat.
«Sie fürchten, dass al-Dulimis Geld beim Islamischen Staat landen könnte», kommentierte ein Beobachter diese ungewöhnliche Konstellation. Denn an der Seite der Terrormiliz kämpfen viele ehemalige Gefolgsleute von Saddam Hussein. Ob berechtigt oder nicht: Dieser Aspekt verleiht dem Fall eine zusätzliche Brisanz. Auf das Urteil, das in einigen Monaten veröffentlicht wird, darf man gespannt sein.
Die erste Instanz des Gerichtshofs, die so genannte Kammer mit sieben Richtern, hat gegen die Schweiz entschieden. Eine Bestätigung dieses Urteils durch die 17-köpfige Grosse Kammer dürfte neue Kritik hervorrufen. Diese werde gehört, habe aber «kein sehr grosses Gewicht», heisst es in Strassburg. Sorgen macht man sich trotzdem: Eine Kündigung der Menschenrechtskonvention durch die Schweiz könnte zum Steilpass für andere Länder werden, vor allem Russland, das nicht nur wegen des Ukraine-Konflikts in Strassburg am Pranger steht.
«Der Gerichtshof stört», kommentierte ein hoher Beamter die Renitenz in den Mitgliedsstaaten. Auch der Schweizer Luzius Wildhaber, von 1998 bis 2007 Präsident des EGMR, teilte die Kritik an der «aktivistischen Rechtsprechung». Trotzdem stellte er dem EGMR ein gutes Zeugnis aus. Auch die Präsidenten von SP, CVP, FDP, Grüne, GLP, BDP und EVP bekannten sich am Dienstag ohne Wenn und Aber zur EMRK.
Anlass war die Rede von Dean Spielmann, seit zwei Jahren Präsident des EGMR, vor dem Bundesparlament in Bern. Diese huldige «fremden Richtern», klagte die SVP in einer separaten Mitteilung. Der Luxemburger hingegen betonte, er spreche nicht als fremder Richter, sondern «als Freund Ihres Landes». Die Schweiz sei «ein Vorbild» im Herzen Europas.
Fazit nach zwei Tagen in Strassburg: Neben der Haltestelle «Droits de l'Homme» residieren keine fremden Richter. Denn sie schützen auch uns und unsere Werte. Über Einzelfälle kann man streiten, aber an diesem Grundsatz lässt sich nicht rütteln. Es ist eine befremdliche Tatsache, dass zu viele in der Schweiz dies nicht wahrhaben wollen. Weil sie nicht (mehr) wissen, wie wichtig die Grundrechte sind und wie hart sie erkämpft werden mussten.