Kaum ist Martin Killias als Professor für Kriminologie und Jus an der Universität Zürich emeritiert, taucht er an der Universität St. Gallen als Gastdozent mit Ehrenprofessur wieder auf. Zudem ist er seit kurzem Inhaber seiner eigenen Firma Killias Research und Consulting. Und er beschäftigt sich weiterhin mit einem seiner Lieblingsthemen: Der Jugend-Delinquenz.
Gestern präsentierte Killias anlässlich eines Netzwerktreffens zur Prävention von Jugendgewalt in Aarau erste Resultate seiner Studie, die auf Berichten von Jugendlichen über ihre eigene Delinquenz basiert. Zum dritten Mal in 21 Jahren befragte das internationale Forscherteam um Killias Jugendliche in 35 Ländern rund um den Globus, welche Delikte sie schon begangen hätten und von welchen sie Opfer geworden seien. Die Schweiz hat schon 1992 und 2006 Daten geliefert. 2013 hat Killias wiederum 2857 Schüler aus 160 Schulklassen befragt. Laut dem Kriminologen lässt das nebst dem internationalen Vergleich auch Aussagen über längerfristige Kriminalitätstrends zu.
Killias' wichtigste Erkenntnisse aus der «International Self-reported Delinquency Study»:
1. Die Delinquenz nehme bei Delikten wie Ladendiebstählen und Raufhandel (Schlägereien mit mehreren Beteiligten und Verletzten) ab.
2. Die Delinquenz nehme bei anderen Delikten weiter zu, vor allem bei Drogenverkauf, Velodiebstahl, Einbrüchen und Körperverletzung.
Die Erhebung der Strafurteile des Bundesamtes für Statistik widersprechen Killias aber klar. Zumindest für die vergangenen drei Jahre.
Gegenüber watson verteidigt Killias seine Ergebnisse:
Herr Killias, betreiben Sie Panikmache, um an Gelder für Ihre Forschung heranzukommen?
Wenn diese Rechnung aufgehen würde, dann zu einem Zeitpunkt, an dem ich längst nicht mehr im Business bin. Irgendwann gehe dann auch ich auf Kreuzfahrt (lacht). Zudem unterstützt der Nationalfonds diese Studie.
Wieso fordern Sie dann mehr Unterstützung vom Bund?
Es geht nicht um finanzielle, sondern um administrative Unterstützung künftiger nationaler Studien, die sich auf Schüler beziehen. Wir mussten mit 26 Kantonen verhandeln und hunderte von Schulleitern und Klassenlehrer zur Teilnahme motivieren. Am Ende lief es zwar gut, 73% der zufällig ausgewählten Klassen konnten befragt werden. Das war aber ein immenser Aufwand vor allem für mich persönlich. Wenn künftig der Bund solche Studien wünscht, muss er direkt auf die Kantone zugehen und ihnen erklären, dass er Mitwirken erwartet.
Die Urteilsstatistik und die Polizeistatistik zeigen seit den letzten drei Jahren einen Rückgang der Jugendkriminalität. Nun behaupten Sie das Gegenteil.
Unsere Messungen stammen aus den Jahren 1992, 2006 und 2013. Das heisst, die vorletzte liegt sieben Jahre zurück. Während dieser Zeit ist die Jugendkriminalität noch fünf Jahre massiv gestiegen, bevor sich in den letzten zwei Jahren ein sinkender Trend bemerkbar machte. Vergleicht man 2006 mit 2013 ist auch in der Polizeistatistik eine deutliche Zunahme der Jugendkriminalität bemerkbar. Ein so grosser Widerspruch ist das nicht.
Könnte es nicht sein, dass die Jugendlichen in ihrer Studie angeben krimineller zu sein als sie sind?
Nein, so ist das nicht. Die Zunahme ergibt sich, wenn man die Delikte in Relation mit dem Alter der Delinquenten setzt. In der Schweiz hat man für die Jahrgänge im Alter zwischen 13 und 16 Jahren keine guten Bevölkerungsdaten über Alter und Herkunft. Die Polizei- und Strafurteils-Statistiken geben also absolute Zahlen über Urteile oder Delikte an.
Was ist das Problem?
Die Statistiken berücksichtigen nicht, dass heute in der Schweiz 30 Prozent weniger Jugendliche im Oberstufenalter leben und vor allem weniger junge Einwanderer. Sehr stark zurückgegangen sind auch Jugendliche aus dem Balkan. Wenn eine so hoch delinquente Gruppe erwachsen wird, dann schlägt sich das natürlich in der Zahl absoluter Fälle nieder. Wenn man aber gute Statistik machen will, muss man das auf die Anzahl einer gewissen Altersgruppe beziehen, die in der Schweiz lebt. Wenn man anschaut, wie viele von 100 Jugendlichen mit der Polizei zu tun haben, dann ist an Entwarnung nicht zu denken.
Dennoch: Wie schalten Sie in ihrer Datenerhebung den Faktor aus, dass Jugendliche sich bei ihrer Selbsteinschätzung um anzugeben vielleicht krimineller darstellen, als sie sind?
Diese Überlegungen nehme ich ernst. Doch wenn das so wäre, dann wäre es auch 1992 und 2006 so gewesen. Wieso sollten die Befragten 2013 mehr übertreiben als 2006? Zudem wurden nicht nur mehr Delikte angegeben, sondern auch mehr Opfererfahrungen.
Ein gesellschaftlicher Trend – ob Gewalt cool ist oder nicht – könnte sich aber seit 2006 verändert haben.
Zu der Befragung sitzen die Jugendlichen alleine an einem Computer, somit ist dieses Problem weitgehend ausgeschaltet. Zudem unterscheiden sich die Trends der Delikte über die Jahre und die Trends in den Opferberichten sind weitgehend deckungsgleich mit ihnen. Methodik-Untersuchungen zeigen: Es ist in der Regel ein Holzweg wenn man versucht, Ergebnisse wegzudiskutieren. Im Allgemeinen sind die Antworten relativ ehrlich und reflektiert.
Sie haben festgestellt, dass Gruppenprügeleien abnehmen, jedoch sonst Gewalt und Drogendelikte zunehmen. Wieso?
Ich führe das darauf zurück, dass die Schulen die Gewalt-Thematik heute viel ernster nehmen. Es herrscht beinahe Nulltoleranz gegenüber Gewalt. Die übrigen Delikte finden vorwiegend in der Freizeit statt, wo weniger korrektive Massnahmen spielen. Bei der Gewalt spielt Alkohol und Cannabis eine tragende Rolle. Den Zusammenhang zwischen Alkohol- und Drogenkonsum und Gewalt können wir eindeutig nachweisen.
Auch kiffen macht aggressiv?
Der Zusammenhang zwischen Cannabis-Konsum und Gewalt ist mindestens so eng wie der zwischen Gewalt und Alkohol. Es konsumieren zwar nicht markant mehr Jugendliche Cannabis als 2006, der regelmässige Konsum ist jedoch massiv gestiegen. Das wird noch zu wenig ernst genommen.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für die Drogenpolitik?
Wir müssten uns endlich ernsthaft überlegen, wie wir es hinkriegen, dass weniger Jugendliche Cannabis konsumieren. Mir ist jedes akzeptable Mittel dazu recht. Es ist mir egal, ob das mit einem Verbot oder mit einer Liberalisierung gelingt, aber es muss etwas passieren, damit weniger Jugendliche Cannabis konsumieren. Beim Alkohol führen wir dagegen eine restriktive Politik unter dem Motto «kein Alkohol». Das ist nicht an sich falsch, aber besser wäre vielleicht, man würde weniger auf Abstinenz plädieren sondern auf eine Kanalisierung, also: «Trinkt doch mehr Wein oder Bier!» Das meine ich ganz ernst. Es braucht eine wahnsinnige Menge Wein bis jemand komplett die Kontrolle verliert. Bei Spirituosen hingegen, ist das schnell passiert. Gegen 30 Prozent der Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahren trinken heute regelmässig Hochprozentiges.
Sie würden Jugendliche zum Wein trinken aufrufen?
Aufrufen sicher nicht, aber manchmal ist es besser, eine positive Alternative zu empfehlen, als allein das Unerwünschte – also die harten Drinks – zu bekämpfen. Alkohol hat schliesslich auch positive Seiten. Er baut die Hemmungen ab, macht kommunikativer. In einer Gruppe kann er sehr positive Effekte haben. Nur sollte mehr Alkohol konsumiert werden, um ihn zum geniessen und weniger, um sich zuzudröhnen.