Wir müssen reden. Die Bitte der Eltern klang dringend, erinnert sich Anne an den Sonntagabend vor einem Jahr. Mit ihren zwei Geschwistern fand sie sich im Elternhaus ein. Der Vater druckste rum. Dann fand die Mutter klare Worte: «Wir möchten, dass ihr Kinder einen Erbverzicht unterzeichnet. Damit Vater oder ich, wenn einer von uns stirbt, weiter im Haus wohnen kann.»
Erst mal habe sie leer geschluckt, sagt Anne. Ans Erbe hatte sie noch nie gedacht – an eine Enterbung auch nicht. Ganz anders sieht es bei vielen Schweizer Eltern mit erwachsenen Kindern aus: Wie eine qualitative Umfrage der «Schweiz am Wochenende» zeigt, berichten 11 von 18 in der Deutschschweiz befragten notariellen Organisationen auf Kantonsstufe von einer Zunahme bei Verträgen, die den Erbverzicht besiegeln. Bei 6 der 18 Kantone blieb eine Antwort aus.
Der Erbverzichtsvertrag hält fest, dass Kinder im Todesfall eines Elternteils auf ihren gesetzlichen Erbanspruch verzichten. Die Sorgen seien besonders beim Mittelstand gross, sagen die befragten Notare. Obwohl in der Schweiz gesamthaft praktisch so viel wie noch nie vererbt wird, sichern sich Mittelstandpärchen immer öfter gegenüber ihren Kindern ab.
Bei den klassischen Einfamilienhausbesitzern sei oft ein Grossteil des Vermögens im eigenen Haus gebunden, sagt Jürg Weber, Leiter des Grundbuchamtes und Notariates Frauenfeld. «Gerade dort greifen Eltern immer häufiger zur Absicherungsmethode über den Erbverzicht.» Ähnlich klingt es aus fast allen befragten Kantonen. Die Hausbesitzer des Mittelstands sind zahlreich: Laut einer Berechnung des Immobilienberaters Iazi zählt die Schweiz knapp eine Million Einfamilienhäuser. Etwa 80 Prozent davon fielen mit 6½ Zimmern oder weniger in den Bereich des Mittelstands.
Einerseits sei es früher selbstverständlich gewesen, dass Kinder nicht aufs Erbe pochten, bis beide Elternteile verstorben waren. Heute sei das nicht mehr immer so, sagt Christoph Brügger, Generalsekretär des Schweizerischen Notarenverbands. Andererseits werden Eltern auch immer älter. «Damit kommen vermehrt Fragestellungen auf, wie sich ein Elternteil im Todesfall des Partners finanziell gegenüber den gesetzlichen Erbansprüchen seiner Kinder absichern kann.» Die Sensibilisierung zum Thema habe unter Eltern, meist im Pensionsalter, klar zugenommen. Der Wunsch nach mehr Absicherung entspreche auch dem Zeitgeist unserer Gesellschaft, so Brügger. «Die meisten Eltern kommen mit dem Absicherungswunsch zu uns, weil sie von Fällen gehört haben, die nicht gut ausgingen», sagt Notar Weber.
Ähnlich war es auch bei Annes Familie. Da war dieses Ehepaar in der Nachbarschaft der Eltern, erinnert sich die 32-Jährige. Was dort geschah, habe ihre Eltern alarmiert: Als der Vater starb, waren es die eine Tochter und deren Mann, die auf dem gesetzlichen Erbanteil der Tochter beharrten. Das junge Paar wollte sich gerade ein eigenes Haus kaufen. Das Geld, das den Geschwistern der Familie zustand, war im Haus, sie hatten es nicht auf der hohen Kante. Die Mutter musste das Haus verkaufen. «Meine Mutter hat das abgeschreckt», sagt Anne. Von den eigenen Kindern, so sagte die Mutter, würde sie eine solche Forderung nicht erwarten. Aber bei den Partnern wisse man das ja nie sicher.
Die Angst von Annes Mutter ist durchaus berechtigt. Denn Eltern schützen über Erbverzichtsverträge vor allem das, was sich ihre Kinder oft nicht mehr aus eigener Kraft leisten können: das Eigenheim. Immer häufiger ist der Hauskauf für junge mittelständische Familien ohne finanzielle Unterstützung, meist über einen Erbvorbezug, nicht mehr möglich. «Aktuell sind es etwa neun Prozent unserer Kunden, die einen Erbvorbezug geltend machen», sagt Stefan Heitmann, CEO des Schweizer Hypothekarberaters Moneypark. «Gut 80 Prozent dieser Kunden können ohne diese Unterstützung entweder die Tragbarkeit oder die Belehnungskriterien nicht erfüllen.»
Damit prallen unterschiedliche Interessen zwischen Eltern und Kindern aufeinander. Während sich Eltern ihren Lebensabend sichern wollen, brauchen Kinder, meist im Hinblick auf eine Familiengründung, Geld. Es gebe verschiedene Möglichkeiten, den überlebenden Ehegatten finanziell abzusichern, sagt Markus Zimmermann, Notariatsinspektor des Kantons Zürich. «Ist ein Grossteil des Vermögens im Haus gebunden, stellt ein Erbverzicht der Kinder oft die sicherste Variante dar, damit das Eigenheim nicht verkauft werden muss, um die Erbteile der Kinder auszuzahlen.»
Doch auch dort, wo Geld für einen Erbvorbezug vorhanden ist, tendieren Eltern zur Absicherung. Hypothekaranbieter wie Moneypark sowie Notare und Grundbuchämter berichten von einer Zunahme bei Erbvorbezügen. Die Entwicklung dient als weitere Triebfeder für den steigenden Erbverzicht. Wie Notare sagen, kommt es ebenfalls immer häufiger vor, dass Eltern zwar den Kindern einen Erbvorbezug gewähren, damit aber gleich auch weitere Ansprüche beim Todesfall des Ehepartners gesetzlich aufheben wollen. Mittels Erbverzicht.
An einen Erbvorbezug habe in Annes Familie keiner gedacht, sagt die Zürcherin. Man habe den Eltern nichts wegnehmen wollen. Umso erstaunter war Anne, als die Eltern ihren Wunsch des Erbverzichts äusserten. Ein Vertrauensbruch, fand Anne. Irgendwann habe sie verstanden, dass es den Eltern um Sicherheit ging. Sicherheit, die Familien mit Millionen im Rücken nicht bräuchten, aber die offensichtlich für viele älterwerdende Eltern des Mittelstands ein Thema ist.
Wenige Wochen später sass Anne mit der Familie beim Notar. Sie unterzeichneten den Vertrag. Da stand: «Die genannten Kinder oder deren Nachkommen fallen somit gemäss Art. 495 Abs. 2 ZGB beim künftigen Erbgang des erstversterbenden Elternteils als Erben ausser Betracht.» Wenn es schlecht läuft, gehen Anne und ihre Geschwister auch nach dem Tod des zweiten Elternteils leer aus. Theoretisch könne der verbleibende Elternteil sein ganzes Vermögen verbrauchen, sagt der Zürcher Notar Markus Zimmermann. Häufig werden deshalb in Verbindung mit einem Erbverzicht gewisse Schutzklauseln vereinbart, wie der Schweizer Chefnotar zur «Schweiz am Wochenende» sagt. So zum Beispiel, dass die Kinder trotz des Erbverzichts wertmässig ihren Erbteil erhielten, wenn der verbleibende Elternteil wieder heiratet oder bei ihm eine Demenz eintritt. So weit, sagt Anne, will sie erst mal noch nicht denken. (aargauerzeitung.ch)