Seit Anfang des 20. Jahrhunderts schmiedeten Ingenieure und Behörden Pläne dafür, dem Rheinfall mit Schiffen zu Leibe zu rücken. Für die projektierte Schiffbarmachung des Hochrheins vom Basel bis zum Bodensee stellte er das grösste Hindernis dar. Von der vollständigen Sprengung bis zur weitläufigen Umschiffung wurde alles zu Papier gebracht.
Am meisten Aussicht auf Verwirklichung hatte die Variante, in der die Schiffe kurz vor den reissenden Fluten in einer Schleuse emporgehoben werden sollten. Durch einen Tunnel wären sie oberhalb des Rheinfalls wieder in den Fluss gelangt. Der Wasserfall selbst wäre dabei kaum beeinträchtigt worden, die nähere Umgebung schon.
An der Landesausstellung 1939, an der dieser Plan in Form eines riesigen Modells in den Hallen der Schifffahrt ausgestellt wurde, sorgte er noch kaum für Aufsehen. Als jedoch Anfang der 50er Jahre ein Stück weiter flussabwärts das Kraftwerk Rheinau gebaut werden sollte, entstand eine Protestbewegung, wie sie die Schweiz noch nie zuvor gesehen hatte. Die Staustufe sollte der Stromerzeugung dienen, zugleich auch den Wasserstand heben und damit die Schifffahrt bis zum Rheinfall ermöglichen.
«Der Rheinfall in Gefahr!» titelten die Schaffhauser Nachrichten am 20. Januar 1951 und brachten damit den Stein ins Rollen. Schon bald protestierten 15'000 aufgebrachte Menschen auf der Rheinau-Halbinsel. Auf den Transparenten standen Dinge wie «An das Schandbrett mit den Heimatschändern!» oder «Wir wollen hier kein Kraftwerk – Das Volk».
Und noch viel schlimmer als das Kraftwerk sei die Hochrheinschifffahrt, wenn sie denn kommen sollte, wetterten die Redner an der Kundgebung. Die Schifffahrtspläne wurden als «bedenkliches Zeichen technischer Hybris, die kein Mass mehr kennt» verschrien; die Rede war von «braungünen Schleusentümpeln», die den jetzt noch «kraftvoll dahinströmenden Rhein» zu ersetzen drohten.
Obwohl das Kraftwerk bereits rechtsgültig konzessioniert war und der Baubeginn schon bald erfolgen sollte, waren innert Kürze 150'000 Unterschriften für eine Volksinitiative gegen das Kraftwerk gesammelt. Angesichts dieses geballten Protestes sah man sich in St. Gallen gezwungen, zu handeln. Denn wie kaum eine andere Region erhoffte sich die krisengebeutelte Ostschweiz von der Hochrheinschifffahrt den dringend benötigten Aufschwung.
Das St.Galler Tagblatt machte aus der Rheinaufrage ein «lebenswichtiges Interesse» der Ostschweizer Bevölkerung, die «Anspruch darauf hat, alles vorzukehren, um ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern». Deshalb gelte es zu verhindern, dass «Schaffhauser und Zürcher Sonderinteressen» am Rhein den Ostschweizern die Hochrheinschifffahrt vermiesen. Zu diesem Zweck wurde sogleich eine Gegenkundgebung für das Kraftwerk und für die Schifffahrt einberufen, die allerdings mit rund dreitausend Teilnehmern vergleichsweise mässigen Zulauf verzeichnete.
«Krieg zwischen St. Gallen und Zürich», titelte die Zürcher Wochenzeitung Die Tat und veröffentlichte ein mehrseitiges Streitgespräch mit Vertretern beider Seiten, in dem nicht viel mehr als die Verhärtung der Fronten manifest wurde. Während die eine Seite das Schicksal der gesamten Ostschweiz auf dem Spiel sah («Die Hochrheinschiffahrt ist ein Lebensnerv für die Ostschweiz, auch wenn Ihr Zürcher nicht daran glauben wollt»), wollte die andere Seite das Argument, das Rheinau-Werk sei eine notwendige Bedingung für die Schifffahrt, nicht gelten lassen.
Doch die St. Galler stiessen mit ihren Klagen auf Gehör. Sogar der Schweizer Heimatschutz gestand schliesslich kleinmütig ein, dass das «Wohl und Wehe eines ganzen Landesteils» eine ernste Sache sei und der Schiffbarmachung des Hochrheins keine Steine in den Weg gelegt werden sollten.
Als 1954 an der Urne über das Kraftwerk Rheinau abgestimmt wurde, waren die Bagger bereits vorgefahren. Obwohl dem Anliegen der Initianten viel Sympathie entgegengebracht wurde, hatte die Initiative an der Urne keine Chance. Besonders heftig war die Ablehnung in St. Gallen: Über 80 Prozent sprachen sich dort gegen die Initiative aus.
Die NZZ schrieb am Abstimmungssonntag von einem «St. Galler Bekenntnis für die Rheinschiffahrt» und fügte an, dass «Gesetze mit rückwirkender Wirkung im Geruch der Willkür stehen». Wo käme man hin, wenn das Volk rechtsgültige Baubewilligungen im Nachhinein rückgängig machen könnte? Ähnliche Vorbehalte werden heute gegen die Zürcher Initiative «Hafenkräne Nein» ins Feld geführt. Aber das ist ein anderes Thema.
Rheinau besiegelte noch nicht das Ende des Hochrheinprojektes. Ende der 50er Jahre erarbeitete die Schweiz zusammen mit Deutschland das «Projekt 1961» für die Schiffbarmachung des Rheins von Basel bis zum Bodensee. Einmal mehr wurden neue Pläne gezeichnet, Normen festgelegt und das weitere Vorgehen besprochen. Doch schon bald sollte kein Hahn mehr nach der Schiffbarmachung des Hochrheins krähen. Der Fokus der Behörden – und der Umweltschützer – wandte sich anderen Problemen wie dem Autobahnbau zu. St. Gallen ist trotzdem nicht untergegangen.
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