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Gesellschaft & Politik

«Früher gingen Tausende an eine Demo, heute finden die Proteste auf Facebook statt»

Anti-Ecopop-Demonstration in Bern von Anfang November.
Anti-Ecopop-Demonstration in Bern von Anfang November.Bild: AFP
Politologe zum «digitalen Populismus»

«Früher gingen Tausende an eine Demo, heute finden die Proteste auf Facebook statt»

Die SVP ist offiziell gegen die Ecopop-Initiative. Dennoch sind viele ihrer Wähler und Kantonalparteien dafür. Die sozialen Medien spielen dabei eine bedeutende Rolle. Politikwissenschaftler und Medienexperte Lukas Golder über den «digitalen Populismus».
16.11.2014, 13:4605.03.2015, 10:15
William Stern
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Herr Golder, vom Aargau bis Graubünden ignorieren Kantonalsektionen der SVP das Nein der Mutterpartei zu Ecopop und zur Gold-Initiative. Wird die SVP die Geister, die sie gerufen hat, nicht mehr los? 
Lukas Golder: Nein, bei den «Geistern» – den Leuten, die nun für radikalere Veränderungen einstehen als die Mutterpartei, – handelt es sich nicht um von der SVP beschworene Zombies. Es sind keine Lemminge, sie sind schlau. Die Schlauheit des Schwarms ...

... ein zielloser Schwarm ... 
Ja, der Schwarm selber erscheint ziellos. Aber er kann begleitet werden, seine Forderungen können in gewisse, nicht allzu enge Bahnen gelenkt werden.

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Bild: gfs.bern
Lukas Golder
ist Mitglied der Geschäftsleitung beim Meinungsforschungsinstitut GfS Bern. Zu seinen Schwerpunkten gehören neben Abstimmungs- und Wahlanalysen die Jugendforschung und der gesellschaftliche Wandel. (wst)

Sie bezeichnen das als «digitalen Populismus». 
Es handelt sich dabei um ein Phänomen, bei dem mit einfachen, polemischen Aussagen Missmut geschürt wird, um dies für politischen Einfluss auszunutzen. Im Gegensatz zum klassischen Populismus findet dieser Vorgang nun aber im Netz statt, und nicht mehr in der realen Welt. 

Kann man diese diffuse Stimmung nicht einfach ignorieren? Schliesslich hat nicht alles, was im Netz stattfindet, auch Auswirkungen auf die reale Welt. 
Das kann man nicht. Ein Vergleich: Wenn sich früher tausende Leute zu einer Demonstration zusammengefunden haben, konnten Politiker dies auch nicht einfach totschweigen. Heute findet die Demonstration nicht mehr auf dem Dorfplatz oder in der Bahnhofstrasse statt, sondern in Internetforen, auf Facebook, Twitter oder anderen Diskussionsplattformen. 

Können Sie ein Beispiel geben, wo der digitale Populismus in der Politik in der Schweiz eine Rolle spielte? 
Die Kampagne «Bye Bye Billag» startete auf Facebook und brachte das Thema Fernsehgebühren auf das politische Parkett. Seither wird das Thema immer stärker von der Politik aufgenommen.  

Konkret: Wie funktioniert digitaler Populismus? 
Üblicherweise sondieren die Leute zuerst in den Kommentarspalten von Onlinezeitungen und Nachrichtenportalen, um einen Eindruck für die Stimmung in der Bevölkerung zu einem gewissen Thema zu bekommen. Dazu lassen sie Versuchsballone steigen, die mit radikalen Forderungen gespickt sind. Erhalten sie genügend Resonanz, so werden die Inhalte auf Facebook transportiert und ausformuliert. Finden die Forderungen auch auf Facebook Zuspruch, so kann daraus eine politische Initiative entstehen. 

Diese Forderungen entstehen aus dem Nichts? Keine politischen Kräfte, die dahinterstehen? 
Die politischen Kräfte kommen erst später ins Spiel. Zuerst einmal geht es darum, dass aus dem Nichts agiert wird. Die Leute suchen nach Möglichkeiten, um ihrem Unmut über gesellschaftliche Verhältnisse Ausdruck zu verschaffen. In den öffentlichen Kommentarspalten oder später dann in halbprivaten Portalen schaukeln sie sich gegenseitig hoch, bis sich das Ganze zu einer unkontrollierbaren Macht entwickelt. Eine Macht, die von unten kommt. 

Kommentare zum Kopftuch-Gerichtsurteil in St.Margrethen auf der Facebook-Wall von Lukas Reimann.
Kommentare zum Kopftuch-Gerichtsurteil in St.Margrethen auf der Facebook-Wall von Lukas Reimann.Bild: facebook

Ein klassisch demokratischer Mechanismus also? 
Nein, nur weil die Machtballung «Bottom-up» – von unten nach oben – funktioniert, muss eine solche Entwicklung noch lange keine demokratischen Züge aufweisen. Demokratische Verfahren brauchen Zeit und Ruhe. Diese Ruhe fehlt in den sozialen Medien. Vieles ist spontan, situativ, Emotionen schwappen über.

«Demokratische Verfahren brauchen Zeit und Ruhe. Diese Ruhe fehlt in den sozialen Medien.»
Lukas Golder, Politikwissenschaftler

Dennoch: Wie werden diese politischen Forderungen vom Internet in die Öffentlichkeit getragen? 
Über soziale Plattformen können Initiativen, Referenden oder Petitionen lanciert werden. Wenn das Thema greift und genügend Follower-Power aktiviert werden kann, wird das schnell relevant. Die Hürden zur Realpolitik sind dabei in der Schweiz klein. Eine Volksinitiative benötigt 100'000 Stimmen, das ist wenig. Angenommene Initiativen ändern direkt die Verfassung. Mehr relevante Öffentlichkeit ist fast nicht möglich.  

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Wenn man sich aber etwa die Kommentarspalten anschaut – übrigens auch bei watson – hat man das Gefühl, dass hinter den Beiträgen Personen stecken, die schlicht ihrer Wut freien Lauf lassen wollen. 
Das ist so. Erst danach kommen Leute ins Spiel, die dieses Phänomen für sich zu nutzen wissen. Ich nenne es «auf der Klaviatur der Medien spielen». Leute wie SVP-Nationalrat Lukas Reimann etwa beherrschen dieses Spiel virtuos. Kein Zufall, ist er auch begeisterter – und, wie man sagt, begnadeter – Pokerspieler. 

Was bedeutet das?
Er hält seine Nase in den Wind, erspürt die Stimmungslage, nimmt Bälle auf und gibt den Leuten damit zu verstehen: «Ich bin auf eurer Seite, und das ist die Seite der politischen Mehrheit.» Ich nehme an, er hat früh begriffen, dass es nicht das Charisma eines politischen Führers ist, das ihn auszeichnet, sondern die Affinität für Themen, die den Leuten unter den Nägeln brennen. Und dass sich solcher Unmut heute auf digitalen Kanälen bündeln lässt. Der digitale Populismus funktioniert ohne diese Gestalten. Es braucht nur noch Mittler, keine Führer mehr.

Wenn man sich in Europa umschaut, sieht man an der Spitze jeder bekannten Partei eine populäre Figur: Nigel Farage bei der UKIP, Beppe Grillo bei der Cinque-Stelle-Bewegung, Heinz-Christian Strache bei der FPÖ.
Bei Grillo gebe ich Ihnen Recht, aber er ist auch eine Figur, die – ähnlich wie bei uns Christoph Blocher – zwar nicht der Unterschicht entstammt, aber eine Ablehnung durch das Establishment erfahren hat – eine Kränkung, die Motivation für eine politische Karriere sein kann. Aber der Aufstieg der Cinque-Stelle-Bewegung war möglich, obwohl mit Silvio Berlusconi bereits ein Populist die klassischen populistischen Medien vollständig beherrschte.

Beppe Grillo.
Beppe Grillo.Bild: AFP

Mit Hilfe der sozialen Medien?
Ja, sie waren als alternativer Kanal entscheidend. Das ist typisch für unsere Zeit des Übergangs: Klassische populistische Medien wie Fernsehen und Boulevardzeitungen behalten ihre Bedeutung. Parallel dazu entsteht ein neues Medienuniversum mit neuen Regeln, neuen Spielern und neuen Optionen. Ähnliches gilt für die populistische Führung: Sie sind immer noch wichtige Figuren, aber parallel dazu erhalten anonyme Massenbewegungen politisches Gewicht. 

Ist das soziale Medium der Stammtisch des 21. Jahrhunderts, wo nach Lust und Laune gepoltert und gewütet werden kann gegen alle und jeden, ohne dass Konsequenzen drohen? 
Ein Stammtisch für Jüngere. Facebook sicherlich, weil man hier mehr oder weniger unter seinesgleichen bleiben und sich gegenseitig recht geben kann, unbehelligt von den Meinungen anderer Leute, die festgefahrene, gemachte Meinungen herausfordern könnten.

«Wir sprechen von einer mitteljungen, technikaffinen Gruppe von Männern.» 
Lukas Golder, Politikwissenschaftler

Ist der digitale Populismus eine Generationenfrage? 
Nur bedingt. Wir sprechen von einer mitteljungen, technikaffinen Gruppe von Männern. Dass junge Leute heutzutage wieder offener sind für rechtskonservatives Gedankengut, das sich für populistische Forderungen anbietet, ist in meinen Augen aber nicht von der Hand zu weisen. Schauen Sie sich Umfragen an: Es ist wieder in, konservativ zu sein. 

Welche Rolle spielen die Informationsmedien wie Zeitungen, Fernsehen, Radio oder Newsseiten?
Die Bedeutung der klassischen Medien in der politischen Meinungsbildung schwindet zwar, sie ist aber weiterhin gross. Die Bedeutung sozialer Medien nimmt nur langsam zu. Auch früher gab es populistische Kampagnen, welche die Politik vor sich hin trieb. Die vom «Blick» gestartete Petition gegen Kampfhunde haben 2005 nicht weniger als 144 Nationalrätinnen und -räte unterschrieben. 

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Bild: pd/blick

Und heute?
Die Rolle der Informationsmedien ist eine andere. Der unabhängige Meinungsjournalismus dient nicht mehr alleine als Gradmesser für politisches Befinden, die redaktionellen Medien haben kein Deutungsmonopol in gesellschaftspolitischen Fragen mehr. 

Sondern?
Wenn zu einem bestimmten Thema immer und immer wieder Kommentare aufgeschaltet werden, die eine Schiene – eine radikale, polemische – fahren, dann hält man diese Meinung irgendwann versehentlich für die Bevölkerungsmeinung und sie schwappt vielleicht unreflektiert in die Redaktion über. Das kann sich in der Wortwahl oder in der Herangehensweise an die Themen ausdrücken. Auch watson greift zum Wort «unfucked», um auf sich aufmerksam zu machen.  

«Wir müssen an diesen neuen digitalen Stammtischen erst lernen, spannende Debatten zu führen.»
Lukas Golder, Politikwissenschaftler

Funktioniert digitaler Populismus nur mit rechtskonservativen Themen? Der Angst vor dem Fremden etwa, wie sie in der Masseneinwanderungs-Initiative oder bei Ecopop zum Ausdruck kommt? 
Er funktioniert nicht nur mit diesen Themen, aber es ist sicher einfacher, mit diesen Themen Stimmung zu machen. Und neue rechte Strömungen wirken als Sammelbecken der Globalisierungsverlierer. Da ist klar, dass aus den Ängsten der Leute mehr Kapital geschlagen wird als mit schwierigen, komplexen Fragestellungen. Die Linken sind ausserdem in dieser Hinsicht zu verkopft. 

Keine linken Bewegungen, die digitalen Populismus nutzen?
Doch, es gibt Bewegungen aus einer linken oder autonomen Ecke, die eine Art digitalen Populismus pflegen.

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Zum Beispiel?
Die Piratenpartei in Deutschland. Aber sie ist gescheitert, weil es ihr nicht gelang, die populistischen Forderungen in das Parteiprogramm einfliessen zu lassen. Die Linke ist gegenüber Vereinfachungen skeptischer und ihre Haltungen lassen sich schwieriger bündeln.

Ist hier die SVP in der Pflicht? 
Die SVP hat es schwierig, die Themen laufen teilweise an der Partei vorbei, sie ist wie andere Parteien auch nicht gerüstet für eine solche Entwicklung. Es ist sicherlich wichtig, mit diesen entfesselten Leuten ins Gespräch zu kommen, sie zu einer Diskussion zu zwingen. Wir müssen an diesen neuen digitalen Stammtischen erst lernen, spannende Debatten zu führen. 

«Dann braucht es halt auch einmal den Mut, einen Shitstorm wütender Trolle auszuhalten.»
Lukas Golder, Politikwissenschaftler

Eine Gesprächskultur im Netz also? 
Ja, was es bräuchte, wäre eine Art Netiquette, die Grundlage für eine ausgewogene Debatte bilden könnte. Aber das Schwierige ist ja, die Leute überhaupt erst zu erreichen. 

Tragen Redaktionen hier auch Verantwortung? 
Ja. In erster Linie müssen die Kommentarspalten besser moderiert werden. Extremistische, plakative, abwertende Äusserungen sollen keinen Eingang finden in die Kommentarspalten. Dann braucht es halt auch einmal den Mut, einen allfälligen Shitstorm wütender Trolle auszuhalten. 

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