Wie sollen die explodierenden Krankenkassenprämien gestoppt werden? Das war die grosse Frage in der SP, nachdem die Prämien im Herbst erneut massiv stiegen – um 8,5 Prozent. Mit einkommensabhängigen Prämien, lautete die Antwort. Sie seien sozialer als Kopfprämien.
Diese Antwort reichte Samira Marti und Samuel Bendahan allerdings nicht. Das neue Co-Fraktionspräsidiums wollte es genauer wissen. Es wertete die verschiedenen Haushaltstypen systematisch aus. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte selbst überprüfen können, ob und wie er von einer Abschaffung der Kopfprämie profitieren würde.
Das Ergebnis war frappant: Die Auswertung der Haushaltstypen zeigt, dass 85 Prozent der Bevölkerung zum Teil massiv entlastet würden – selbst Personen mit hohem Einkommen.
Das Beispiel zeigt, wie Samira Marti (29, BL) und Samuel Bendahan (43, VD) funktionieren. Seit dem 1. September sind sie im Amt. Neben dem Co-Präsidium von Mattea Meyer und Cédric Wermuth ist es die zweite Co-Leitung an der Spitze der Partei. Die Wahl eines neuen Bundesratsmitglieds als Nachfolge für Alain Berset ist für sie gleich ein Sprung ins kalte Wasser.
Für Bendahan und Marti ist klar, weshalb sie die Arbeit im Co-Präsidium leisten: Zwei Köpfe bringen bessere Resultate zustande, sagen sie, als ein einzelner Kopf, der einsam vor sich hinbrütet. Das Beispiel der einkommensabhängigen Krankenkassenprämien veranschauliche dies.
«Wir wollen aufhören mit der Zeit der Einzelkämpfer, die sich für unersetzbar halten», sagt Samira Marti. «Zu zweit sind wir besser als alleine, ein Team ermöglicht den gemeinsamen Austausch. Dadurch können wir Erfahrungen teilen und bessere Lösungen finden.»
Selbst wenn sie gemeinsam vor der Fraktion sitzen und - abwechselnd - die Sitzungen leiten, kann es passieren, dass die Co-Chefin den Co-Chef vor den 43 übrigen Fraktionsmitgliedern korrigiert (oder umgekehrt). Das war in der Herbstsession der Fall, als Bendahan ein Fehler unterlief.
Untergräbt das nicht die Autorität des Co-Chefs? Nein, sagt Samuel Bendahan. «Ich kann vor der Fraktion einen Fehler machen, ihn eingestehen – und es dann besser machen.» Fehlerkultur ist zentral für die beiden. Falscher Stolz, keinen Irrtum begehen zu dürfen, sei eben eng mit der These der Einzelkämpfer verknüpft, sagt Bendahan.
Vertrauen, Qualität und Intuition bilden die Essenz ihres Co-Fraktionspräsidiums. Marti und Bendahan müssen sicher sein, dass sie nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dafür braucht es Vertrauen. Auch Vertrauen in die Qualität des Gegenübers. «Samira denkt an alles, sie sieht alle Herausforderungen», sagt Bendahan. «Es ist ausserordentlich beruhigend, mit jemandem zu arbeiten, der so gut ist.» Marti wiederum schätzt an Bendahan, dass er «gut Prioritäten setzen kann und den Überblick behält». Zudem sei er «thematisch sehr kompetent», sagt sie.
Damit können intuitive Entscheide entstehen. Das ist wichtig, da «Politik das Geschäft der schnellen Entscheide ist», wie Marti sagt. Es helfe, dass sie oft «gleicher Meinung» seien, betont Bendahan. Die vielen kleineren Entscheide fällen beide intuitiv alleine, wichtigere Fragen diskutieren sie gemeinsam. Letztlich, gesteht, Marti, «gleichen wir doch fast alles miteinander ab».
Bendahan und Marti sind Ökonomen. Der Waadtländer, dessen Markenzeichen ein granatroter Pullover ist, wurde 2017 in den Nationalrat gewählt. Er unterrichtet in einem 30-Prozent-Pensum Verhaltensökonomie an der Uni Lausanne und an der EPFL. Daneben war er während acht Jahren Verwaltungsrat der Kantonalbank Neuenburg und berät heute als selbstständiger Unternehmer diverse Firmen, darunter auch Banken.
Die Baselbieterin Marti rutschte im Dezember 2018 als damals jüngste Nationalrätin ins Parlament nach. Sie arbeitete früher als Präsidentin der Gewerkschaft VPOD der Region Basel. An der Universität Zürich untersuchte sie in ihrer Masterarbeit die Auswirkungen der Vermögenssteuersenkungen auf die Vermögensungleichheit seit 1969 in der Schweiz. Die Arbeit wurde diesen Sommer im englischen Wissenschaftsmagazin «Oxford Review of Economic Policy» publiziert.
Marti wie Bendahan gelten als Schnelldenkerinnen und Schnellsprecher, sie haben aber auch ein Talent für Vernetzungen. Trotz ihres jungen Alters brachten schon beide im bürgerlich dominierten Parlament wichtige sozialdemokratische Minderheitsanliegen durch.
Marti etwa die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen». Sie fordert, dass niemand mehr wegen des Bezugs von Sozialhilfe ausgewiesen werden darf, der oder die seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz lebt.
Bendahan wiederum spielte im Hintergrund eine zentrale Rolle bei der Wahl von Elisabeth Baume-Schneider in den Bundesrat. Und er war Kommissionssprecher und damit federführend bei den Covidhilfen an Unternehmen, Selbstständige und Kunstschaffende.
Diese Anliegen zeigen den politischen Fokus von Marti und Bendahan deutlich: Sie wollen sozialdemokratische Bestreben voranbringen. Das sei die grosse Herausforderung für die nächste Legislatur, sagen beide. «Wir müssen», sagt Samira Marti, «endlich vorwärtskommen beim Klimaschutz, in der Gleichstellung und beim Schutz der Kaufkraft.»
In diese Richtung wollen sie die SP-Fraktion stärker trimmen. Alle 45 Mitglieder sollen dabei mithelfen. «Wir brauchen eine Fraktion, die weiss, wie man im Parlament Kompromisse schmiedet, um das Leben der Menschen zu verbessern», sagt Marti. «Dafür brauchen wir alle.»
Marti und Bendahan reden da der Mitte ins Gewissen, die sie in ihren Augen in sozialpolitischen Fragen wie Prämienentlastung, Anpassung von AHV-Renten an die Teuerung und Mietkosten zu oft im Stich gelassen hat. «Die Mitte stellte Anfang Legislatur den Anspruch an sich selbst, eine bürgerlich-soziale Partei zu sein», sagt Samira Marti. «Nur macht die Mitte-Fraktion in Bern in vielen Fällen das Gegenteil. Wir appellieren deshalb an sie, endlich mitzuhelfen, um die Familien zu entlasten.»
Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy verwirft die Hände, nachdem er von dieser Kritik hört. «Da wird die ewig gleiche Leier aufgezogen - und sie stimmt einfach nicht», sagt er. «Wir haben immer gesagt, dass wir bei der Prämienverbilligung im Ständerat Abstriche werden machen müssen.» Es seien aber immerhin 350 Millionen zusätzlich gesprochen worden. «Und beim Teuerungsausgleich für die AHV machte der Bundesrat auf Druck der Mitte hin einen Schritt», sagt Bregy. «Deshalb war im Parlament nur noch ein kleinerer Schub nötig.»
Was das Co-Fraktionspräsidium der SP betrifft, ist Bregy skeptisch. «Persönlich erachte ich ein Co-Präsidium als eher problematisch für die Zusammenarbeit», sagt er. Und er sagt: «Ich nahm bisher nur Marti wahr, Bendahan nicht.»
Ähnlich äussert sich SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Er sagt, er habe den Eindruck, in der Realität leite vor allem Marti die Fraktion. Bendahan sei wohl nur gewählt worden, damit sich die Romands nicht übergangen fühlten. Mit einem sarkastischen Schlenker deutet Aeschi zudem an, was er vom Co-Präsidium hält - nämlich wenig: «Ich bin gespannt, ob uns die SP Ende November als erste Partei einen Co-Bundesrat auf dem Ticket präsentiert.»
Marti und Bendahan wissen um die Skepsis der Bürgerlichen ihrer Co-Leitung gegenüber. Sie glauben auch zu wissen, was der wahre Grund für die Kritik ist: «Haben wir Erfolg mit unserem Modell, bedeutet das, dass Politikerinnen und Politiker ersetzbar sind», sagt Marti. «Wir stellen ihre alleinige Machtposition infrage.»
Auch ihren Einsitz im Ratsbüro haben sie geregelt. Dort sitzen alle Fraktionschefs - aber nur einzeln. Im Moment vertritt Marti die SP ein Jahr lang, danach wird das Bendahan ein Jahr lang tun. «Wir wechseln uns bei den Sitzungen aber auch immer wieder ab», sagt Marti. Als Vizefraktionschefin habe sie auch schon Roger Nordmann ersetzt.
Mit Kritik, das wird deutlich, müssen die beiden leben lernen. Sie stehen nun stärker im Fokus. Gerade auch bei den Bundesratswahlen. (aargauerzeitung.ch)