Bisweilen sieht man sie noch am Boden, vergilbt und abgewetzt, in Geschäften oder auf dem Trottoir vor Take-away-Restaurants: Streifen aus Klebeband. Sie markierten während der Covidpandemie für die wartende Kundschaft den einzuhaltenden Mindestabstand.
Wenige Tage vor der nunmehr dritten Abstimmung über das Covid-Gesetz vom 18. Juni wirken die Klebebandstreifen wie archäologische Spuren einer längst vergangenen Zeit. Die Pandemie ist im Bewusstsein der meisten Leute weit weg.
Dabei ist es nur etwas mehr als ein Jahr her, als am 1. April 2022 mit der Isolationspflicht für Infizierte und der Maskenpflicht im ÖV die letzten Einschränkungen aufgehoben worden sind.
Damit ging eine im Februar 2020 mit dem Verbot von Grossveranstaltungen begonnene, mehr als zwei Jahre dauernde Phase zu Ende. In dieser Zeit hatten das Coronavirus und die Massnahmen dagegen den Alltag der Menschen geprägt. Es war auch politisch das alles überragende Thema.
Für Politgeograf Michael Hermann war die Pandemie eine aussergewöhnliche Situation, «weil sich niemand, auch nicht unpolitische Menschen, dem Thema hat entziehen können». Schliesslich seien praktisch alle Bereiche des Lebens - Arbeit, Freizeit, Bildung, Familie - davon betroffen gewesen. Hermann führte mit seinem Forschungsinstitut Sotomo im Auftrag des Bundes mehrere repräsentative Umfragen zu gesellschaftlichen Spannungen während der Pandemie durch.
Um die politischen Auswirkungen der Pandemie zu beschreiben, verwendet Hermann das Bild eines Hochwassers. Die Pandemie und die damit verbundenen Massnahmen haben laut Hermann enorme politische Energien freigesetzt. Dieser Fluss an Energie habe keinen Platz gefunden im herkömmlichen politischen System: «Er ist über die Ufer getreten und das Wasser ist andere Wege gegangen als üblich.»
Die traditionellen politischen Akteure hätten diese entstandene Energie nicht vollständig auffangen können. Das habe einen Kanal geöffnet, in dem die Entstehung von massnahmenkritischen Bewegungen mit zeitweise erheblichem Zulauf möglich geworden sei, erläutert Hermann.
Es sind dies Gruppen wie die «Freunde der Verfassung» oder «Mass-Voll», die innert kürzester Zeit zu referendumsfähigen Kräften aufgestiegen sind. So gelang es ihnen trotz widrigen Umständen, im Pandemiewinter 2020/21 fast 100'000 Unterschriften für das erste Referendum gegen das Covid-Gesetz zu sammeln. Bei der folgenden Abstimmung am 13. Juni 2021 stimmten immerhin 39.2 Prozent der Stimmenden und acht Kantone mehrheitlich Nein.
Mit gar 187'000 Unterschriften erzwangen die Massnahmenkritiker Ende November 2021 eine zweite Covid-Abstimmung. Die Nein-Kampagne überzog dank einem Millionenbudget - ein Grossteil aus kleinen Spendenbeiträgen stammend - das ganze Land mit ihren Plakaten. In einem teilweise gehässig geführten Abstimmungskampf kamen Tausende zu den Demonstrationen der Massnahmenkritiker. Doch an der Urne stimmten nur noch 38 Prozent und zwei Kantone Nein.
Wie steht es kurz vor der dritten Abstimmung über das Covid-Gesetz um die Massnahmenkritiker?
Die Zeiten der grossen Demonstrationen scheinen vorbei, die Mobilisierungskraft auf der Strasse hat nachgelassen. Doch ihre Referendumsfähigkeit hat die Bewegung nicht eingebüsst. Das beweist die anstehende Abstimmung. Die Unterschriftensammlung verlief jedoch harziger als bei den ersten beiden Durchgängen.
Andere politische Projekte brachte die Bewegung nicht ins Ziel. So scheiterten die von ihr unterstützen Kinderschutzinitiativen in mehreren Kantonen im Sammelstadium.
In Schieflage ist auch die nach dem gleichnamigen Staatsrechtler benannte Giacometti-Initiative, welche eine zwingende Volksabstimmung über dringlich beschlossene Bundesgesetze verlangt. Hier fehlen weniger als zwei Monate vor dem Ende der Sammelfrist noch über ein Drittel der benötigten Unterschriften.
Die gesamte Bewegung der Massnahmenkritiker und die «Freunde der Verfassung» seien in guter Form, entgegnet deren Präsident Roland Bühlmann. Die Verfassungsfreunde mit ihren 12'000 Mitgliedern und dem weiterhin ansehnlichen Vereinsvermögen hätten «die notwendige politische Muskelmasse».
Doch Bühlmann räumt ein, dass die Mobilisierungskraft im Vergleich zur intensiven Phase der Pandemie abgenommen habe: «Damals war Gesundheitsminister Alain Berset mit seinen regelmässigen Medienkonferenzen unser bester Helfer.»
Die Themen Grundrechtseinschränkungen und individuelle Freiheit beschäftigten die Bevölkerung aber weiterhin stark, sagt Bühlmann. Das merke er im Abstimmungskampf, wenn er auf den Einsatz des Covid-Zertifikats im Inland hinweise, der mit dem zur Abstimmung stehenden Covid-Gesetz weiterhin möglich wäre.
Ähnlich sieht es Nicolas A. Rimoldi, Co-Präsident von Mass-Voll. Corona sei nur das Symptom einer Entwicklung gewesen, die Grundrechte in der Schweiz immer öfter missachtet und durch Notrecht aushebelt. Neben den Covid-Massnahmen nennt Rimoldi als weitere Beispiele die Verletzung des Eigentumsrechts von Anlegern bei der Credit-Suisse-Rettung oder die im Falle einer Energiemangellage drohenden Vorschriften bezüglich Raumtemperatur mit hohen Bussen.
«Die letzten drei Jahre waren ein Gamechanger», ist Rimoldi überzeugt. Die Bevölkerung habe gemerkt, was geschehen könne, wenn die Politik zu viel Macht bekomme und die Grundrechte nicht respektiere. Roland Bühlmann von den Verfassungsfreunden spricht von einem «totalen Vertrauensverlust in Politik und Medien» bei substanziellen Teilen der Bevölkerung als Folge der Pandemiemassnahmen.
Mitte-Nationalrat Lorenz Hess (BE) setzt sich derzeit an der Spitze des Ja-Komitees für die Annahme des Covid-Gesetzes ein. Auch er beobachtet, wie sich Teile der Bevölkerung «ein Stück weit aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und von Politik und Staat abgewandt haben».
Doch Hess ortet andere Ursachen. Er spricht von einem «künstlich heraufbeschworenen Misstrauen» gegenüber dem Staat. Dieses hätten die Massnahmenkritiker geschaffen mit teilweise haltlosen Unterstellungen, etwa dass es Bundesrat und Parlament alleine um die Macht gegangen sei. «Dabei hatte niemand hier im Bundeshaus Freude an der Pandemie», versichert Hess.
Politisch dürfte die Abstimmung vom 18. Juni die letzte grosse Entscheidung im direkten Zusammenhang mit der Covid-Pandemie sein. Doch am Horizont zeichnet sich für die Massnahmenkritiker bereits die nächste grosse Schlacht ab. Sie wird sich um den WHO-Pandemiepakt drehen. Mehrere Parlamentarier bestätigen, dass sie zu diesem Thema sehr viele Zuschriften aus der Massnahmenkritiker-Szene erhalten.
Sowohl Rimoldi wie auch Bühlmann sehen im Pakt eine Bedrohung der Souveränität der Schweiz. «Mit dem Pandemiepakt kann die Weltgesundheitsorganisation die Politik bestimmen und unsere Grundrechte aushebeln», warnt Rimoldi. Mass-Voll, die Freunde der Verfassung und weitere Organisationen beginnen demnächst mit der Unterschriftensammlung für die sogenannte Souveränitätsinitiative, die sich gegen den WHO-Pandemiepakt richtet.
Für den Bundesrat ist das Vertragswerk hingegen ein potenziell nützliches Instrument zur besseren internationalen Koordination bei der Pandemievorbereitung und -bekämpfung. Die Schweiz würde weiterhin eine eigenständige Politik betreiben, versichert er. Der Pandemiepakt wird derzeit ausgehandelt, der fertige Entwurf dürfte 2024 vorliegen. Erst dann entscheidet die Schweiz, ob sie mitmachen will.
Ob die Souveränitätsinitiative der Bewegung einen zweiten Frühling verschafft, ist offen. Für Politgeograf Michael Hermann zeigt die Geschichte, dass Initiativen mit einem abstrakt-institutionellen Zugang zu Grundrechts- und Souveränitätsfragen einen schweren Stand haben.
Roland Bühlmann von den Verfassungsfreunden ist überzeugt, dass die Bewegung der Massnahmenkritiker nicht verschwinden werde. Ihre Strukturen seien intakt, das Engagement gross und die Themen blieben aktuell: «Manchmal dauert es halt eine Generation, bis eine Bewegung mit ihren Themen wirklich in der Politik mitreden kann. Das zeigt das Beispiel der Grünen.»
Diese sind die aktuell viertwählerstärkste Partei des Landes und pochen auf einen Sitz im Bundesrat. Der Vergleich zeigt: Das Selbst- und das Sendungsbewusstsein der Massnahmenkritiker ist ungebrochen. Die Frage ist, wie hoch ihre Einschaltquoten in Zukunft noch sind. (aargauerzeitung.ch)
Da die Politik die Spielregeln für unsere Gesellschaft vorgibt, sollen auch möglichst alle Anliegen ihre Stimme und Mitwirkungsmöglichkeiten erhalten.
Wie schon frühere (temporäre) Bewegungen würden dann auch sie schnell merken, dass einfach "Anti" nicht wirklich viel bringt, aber dass ihre Anliegen konkret eingebracht werden können.
Insofern wünsche ich ihnen viel Erfolg bei den Wahlen. Mit- statt gegeneinander.