Rasiertermin bei Coiffeur Saleh an der Josefstrasse im Zürcher Kreis 5: «Mit Messer oder Maschine?», werde ich gefragt. Ich bevorzuge Maschine. Allgemeines Gelächter. Wer würde zurzeit schon einem Araber mit Rasierklinge den Hals hinstrecken? Soweit hat es die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gebracht: Wer Trockenrasur wählt, sorgt für Erheiterung.
Dabei muss hier niemand um seinen Hals fürchten. Das halbe Dutzend Kurden um Besitzer Ghamkin Saleh versteht sein Handwerk. Ich werde von einem sunnitischen Araber – dem einzigen im Bund – bedient, auch er ein Meister seines Fachs. Er floh aus Bagdad in die Schweiz, wo die Halsabschneider vom IS nur in Gedanken nah sind: «Wir sprechen über nichts anderes, Tag für Tag», so der 37-Jährige. «Espresso oder Kaffee?»
Dem Ziel von IS-Chef al-Baghdadi, einen zusammenhängenden Staat für die Araber zu schaffen, kann er einiges abgewinnen, nicht aber seinen Methoden: «Es muss ohne Blutvergiessen gehen», sagt er, während er andächtig meinen Bart stutzt. Sein Arbeitskollege und Landsmann, ein Kurde aus dem nordirakischen Dahuk, pflichtet bei: «Ich hasse diesen IS. Überall wo sie hingehen, töten sie wahllos Kinder und Frauen.»
Apropos Landsmann: Auch die Kurden wollen einen eigenen Staat, wie eine einschlägige Karte an der Wand verdeutlicht. Ein unabhängiges Kurdistan ist allerdings so wenig wahrscheinlich wie die Rückkehr des Kalifats. Trotzdem wird bei Coiffeur Saleh klar, wie bedeutungslos die von den Kolonialmächten Grossbritannien und Frankreich einst willkürlich gezogenen Grenzen sind. Man mag aus Syrien oder Irak kommen, aber man ist Araber oder Kurde.
Nach erfolgreicher Rasur bekomme ich noch einmal ein Getränk angeboten. Man nimmt Platz in der Sitzecke, mit freiem Blick auf ein Bild des jugendlichen Massud Barsani, heute Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Hier wird der Barbier von Bagdad philosophisch: «Es ist schade für die Kurden, sie haben sich so lange heraushalten können. Aber jetzt müssen sie mitmachen in diesem schmutzigen Spiel.»
Was ist das für ein Spiel, frage ich. Er: «Ich schicke meiner Familie in Bagdad jeden Monat Geld. Andere haben weniger Glück und müssen für ihr Auskommen beim IS, einer schiitischen Miliz oder den Peschmerga anheuern. Es ist ein Film, mit Schauspielern und Statisten. Irgendwann ist der Film zu Ende, aber jetzt noch nicht. Wie er ausgeht, weiss nur der Regisseur.»
Wer ist der Regisseur, möchte ich wissen. Kalif al-Baghdadi? «Nein, der macht jetzt zwar grosse Karriere, aber er wird wieder verschwinden. Bleiben wird der Hass unter Sunniten, Schiiten und Kurden, den er befeuert hat.» Obama? «Obama ist auch nur ein Schauspieler, aber ein guter.» Nein, er kenne den Regisseur nicht. «Aber irgendwo hier im Westen sitzt er. Irgendwoher müssen doch all die Waffen kommen, mit denen sich die Menschen dort gegenseitig abschlachten.»
Ich verabschiede mich vom Coiffeur Saleh, wo im Kleinen funktioniert, was im Nahen Osten im grossen Ganzen schiefgeht: Das friedliche Zusammenleben der Volksgruppen. «Es funktioniert überall, nur nicht dort», sagt der Kassierer, ein junger Mann aus Aleppo. Mir kommt ein Spruch in den Sinn, den ich hinter seiner Kasse gelesen habe: «Nicht da wo ich geboren wurde, sondern wo es mir gut geht, ist mein Zuhause», steht dort unter einem Bild aus der Heimat.