Weltweit beneiden die Menschen das Schweizer Staatswesen um ihre direkte Demokratie. Nur die Schweizer selber, die scheinen ihr Privileg nicht so recht zu schätzen.
Die Zürcher Regierungs- und Kantonsratswahlen waren der letzte Tiefpunkt in der Mobilisierung der Bürger. Nur gerade 32,65 Prozent aller Stimmberechtigten wollten ihre Regierung und ihre Volksvertreter im Parlament wählen. CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt bezeichnete dies als «Schande». Für watson-Kolumnist Knackeboul war die Demokratie die Verliererin am Wahlsonntag in Zürich.
Tiefer geht es nicht mehr, könnte man hoffen. Aber es geht. Und zwar dort, wo die Politik die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger noch direkter betrifft als auf Kantonsebene: In den Gemeinden.
Eine Analyse von watson zeigt, dass die Teilnahme am politischen Prozess auf Gemeindeebene teils gegen Null tendiert.
Der Ostschweizer Kanton St.Gallen gilt als Gemeindeversammlungs-Kanton: Von den 77 Gemeinden führen lediglich die Städte St.Gallen, Gossau und Wil ein Parlament. Die Auswertung der Versammlungs-Statistiken aller St.Galler Gemeinden zeigt, dass im Schnitt nur gerade jeder zwanzigste Bürger die jährlichen Versammlungen besucht, an denen die Steuerfüsse, das Budget und die Rechnung der Gemeinde verabschiedet werden. Die Stimmbeteiligung an den Bürgerversammlungen im Jahr 2014 betrug im Schnitt aller Gemeinden nur gerade 5,9 Prozent.
Augenfällig ist, dass die Stimmbeteiligung deutlich absackt, je grösser die Gemeinde ist. Kleinstädte, wie die Rheintaler Grenzstadt Buchs mit rund 11'000 Einwohnern, erreichen Stimmbeteiligungen von gegen 4 Prozent. An Bürgerversammlungen von kleineren Dörfern kann man hingegen fast einen Fünftel der Bürgerschaft antreffen. Die Gemeinde Berg, die nur 869 Einwohner zählt, verzeichnet regelmässig Stimmbeteiligungen von über 20 Prozent an den Versammlungen.
Rapperswil-Jona ist schweizweit die grösste Gemeinde ohne Parlament. Im letzten Jahr lud die Gemeinde rund 18'000 Stimmbürger zu den beiden Versammlungen – eine im Sommer, eine im Winter – ein. Gekommen sind im Schnitt 1,7 Prozent und damit nicht mal jeder fünfzigste Bürger.
Dass es auch anders geht, zeigen zwei Werdenberger Gemeinden. 2014 musste der Gemeinderat von Wartau seinen Bürgern eine Steuererhöhung von 14 Prozentpunkte beantragen. Mehr als 700 Bürger, also rund 24 Prozent aller Stimmberechtigten, kamen und lehnten den Antrag ab. In Sevelen musste 2011 gar eine Bürgerversammlung abgesagt werden, weil der örtliche Fussballklub über 400 Personen mobilisieren konnte. Zu viel für den Versammlungsort, der nur gerade Platz für 100 bis 150 Personen bot. Traktandum der Versammlung war der Neubau einer Fussball-Clubhütte.
Ob eine Gemeinde ihre politischen Entscheidungen an einer Gemeindeversammlung oder in einem Gemeindeparlament trifft, ist stark vom Kanton und der politischen Kultur abhängig, wie der Demokratieforscher Andreas Ladner in einer Studie schreibt. So haben in den lateinischen Kantonen Genf, Neuenburg und Tessin selbst Kleinstgemeinden ein Parlament, während im Kanton St.Gallen auch grosse Gemeinden wie Rapperswil-Jona mit über 26'000 Einwohnern ihre Bürger zu ihren jährlichen Gemeindeversammlungen einladen.
Gemeindeparlament, ja oder nein, diese Frage ist derweil immer wieder ein Thema in den Gemeinden. Rapperswil fusionierte 2007 mit der Gemeinde Jona. Obschon heute die Stadt am Zürichsee regelmässig Stimmbeteiligungen unter zwei Prozent verzeichnen muss, lehnten alle Parteien die Einführung eines Parlaments bei der Fusion ab. Ein Komitee, bestehend aus SP, glp, SVP und den Grünen lancierte letztes Jahr eine Volksinitiative, um die Parlamentsfrage nochmals zu diskutieren. Ein Gegenkomitee, bestehend aus Mitteparteien, bekämpft das Vorhaben.
Rorschach (9000 Einwohner) schaffte 2004 das Parlament in einer Volksabstimmung gar ab. Ein wichtiger Grund für die Abschaffung war ein massiver Bevölkerungsrückgang von 14'000 auf 8300 Einwohner seit den 1960er-Jahren.
Der heutige SVP-Nationalrat und Stadtpräsident von Rorschach Thomas Müller begrüsste den Entscheid. Mit einer Bürgerversammlung werde «die politische Mitwirkung der Bürger direkter», sagte Müller damals gegenüber dem St.Galler Tagblatt. Fazit nach zehn Jahren Parlamentsabschaffung: Nur gerade fünf bis sechs Prozent aller Bürger wollen mitwirken.