Im März 2023 fand im Bundeshaus die erste Behindertensession statt, hier posiert Tobias Fankhauser mit der Grünen-Ständerätin Maya Graf.Bild: keystone
30.08.2023, 06:0231.08.2023, 11:17
Viele Menschen mit Behinderungen fühlen sich in der Schweizer Politik untervertreten – aktuell sind zwei von 200 Nationalratssitzen von Menschen mit sichtbarer Behinderung besetzt. Im Oktober kandidieren deshalb 25 Menschen mit Behinderung für den National- und Ständerat, zu finden sind die Kandidatinnen und Kandidaten auf der Behindertenliste von Pro Infirmis. Sie alle sind von der ungenügenden Durchsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz betroffen.
watson hat sieben von ihnen gefragt, welche Veränderungen es in der Schweiz benötigt, damit die vollständige Inklusion gelingen kann.
Sina Eggimann.Bild: zVg
Sina Eggimann hat Jahrgang 1985, arbeitet in der Geschäftsleitung Administration im Bereich Kinderbetreuung und ist Nationalratskandidatin für die SP im Kanton St.Gallen. Sie sagt:
«Menschen mit Behinderungen müssen bei allen Entscheidungen, welche sie betreffen, miteinbezogen werden. Heute würde auch niemand ein reines Männergremium zu einem Frauenthema befragen. Durch den Einbezug von Menschen mit Behinderungen können Planungsfehler verhindert werden, wodurch es keine teuren nachträglichen Anpassungen braucht. Von hindernisfreien Gebäuden beispielsweise profitieren nicht nur Menschen mit einer Mobilitätsbehinderung, sondern auch Personen mit Kinderwagen, Koffern oder solche, die kurzzeitig auf eine Gehhilfe angewiesen sind.»
Keywan Nuri.Bild: zVg
Keywan Nuri arbeitet als Project Manager IT und möchte die Jungfreisinnigen im Nationalrat repräsentieren. Er erklärt, dass er eine diversifizierte Gesellschaft möchte:
«Wenn wir von Behinderung hören oder sprechen, denken viele wahrscheinlich an Menschen im Rollstuhl. Eine Behinderung ist jedoch nicht immer sichtbar, es gibt mindestens genauso viele unsichtbare Erkrankungen. Wenn Betroffene versuchen, mit der Norm mitzuhalten, um ihre Krankheit zu verbergen, kann das ihre Erkrankungen befeuern. Ich lebe mit Multipler Sklerose und setze mich für eine Gesellschaft ein, in der niemand seine oder ihre Behinderung verstecken muss.»
Philipp Kutter.Bild: zVg
Der 47-jährige Mitte-Nationalrat Philipp Kutter wagt den nächsten Schritt in seiner Politkarriere und kandidiert für den Ständerat. Er erklärt:
«Ich stehe für eine offene Gesellschaft ein und engagiere mich seit Langem für die Gleichstellung, sei dies bei der Ehe für alle oder für die familienergänzende Betreuung zur Gleichstellung von Mann und Frau. Durch meinen Unfall gehöre ich seit Februar 2023 selbst zu einer Minderheit und erfahre Hindernisse und Ungleichheiten am eigenen Leib. Dies möchte ich nutzen, um die Teilhabe aller in unserem Land zu fördern. In der kleinen Kammer sind bisher keine Menschen mit Behinderung vertreten, doch ich bin mir sicher: Ein guter Ständerat sein kann man auch im Sitzen!»
Islam Alijaj.Bild: zVg
Islam Alijaj kandidiert für die SP im Kanton Zürich. Er nannte sich lange selbst ironisch «Handicap-Lobbyist» und hat eine Vision:
«Meine beiden Kinder kommen nun in ein Alter, in dem ich nicht mehr nur der Papi bin, sondern sie langsam verstehen, dass ich mich von den Eltern ihrer ‹Schuelgspändli› unterscheide. Das macht mir Angst. Deshalb kämpfe ich jeden Tag dafür, dass Menschen mit Behinderungen endlich ein selbstbestimmtes Leben führen können. Um es sehr hart zu sagen: Ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen müssen, in der ihr eigener Vater als minderwertig angesehen wird.»
Tobias Fankhauser.Bild: zVg
Tobias Fankhauser ist passionierter Sportler und Betriebsökonom, 33 Jahre alt. Der Baselbieter möchte für die Grünen in den Nationalrat und sagt:
«Der Sport hat mir gezeigt, dass ich im Training auf der Strasse einfach nur ein ‹Gümmeler› unter vielen sein kann. Es spielte keine Rolle, dass mein Velo drei Räder hatte und mit den Armen angetrieben wurde. Diese selbstverständliche Inklusion muss endlich auch in allen Lebensbereichen und Lebenslagen stattfinden, ohne dass Menschen mit Behinderungen zu Bittstellenden werden. Deshalb ist es für mich zentral, dass wir Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.»
Simone Leuenberger.Bild: zVg
Simone Leuenberger ist Gymnasiallehrerin für Wirtschaft und Recht und Grossrätin im Kanton Bern. Nun möchte sie im nationalen Parlament mitreden und kandidiert für die EVP als Nationalrätin. Sie wehrt sich gegen die Zwangsunterbringung von Menschen mit Behinderung:
«Selbst bestimmen, wo und mit wem man leben will, muss auch für Menschen mit Behinderung selbstverständlich werden. Im Moment schreibt der Bund den Kantonen vor, Behinderte in Heimen unterzubringen. Diese Zwangsunterbringung widerspricht nicht nur den Menschenrechten und ist teuer, sondern separiert Menschen mit von solchen ohne Behinderung und verhindert damit ein Zusammenleben. Leben Menschen mit Behinderung mit Unterstützung von persönlicher Assistenz mitten in der Gesellschaft, so trägt dies zur Lebensqualität aller bei. Die Schweiz kann es sich nicht mehr leisten, Menschen mit Behinderung auszuschliessen und damit auf ihre Fähigkeiten, ihr Know-how und ihre Erfahrungen zu verzichten.»
Ferdinand Pulver.Bild: zVg
Ferdinand Pulver ist Unternehmer, Grafiker und Präsident der FDP Baselland. Er möchte in den Nationalrat, weil er der Überzeugung ist, dass Anliegen von Menschen mit Behinderung besser umgesetzt werden müssen:
«Menschen mit Behinderung stossen mit ihren Anliegen in Gesellschaft und Politik auf erstaunlich offene Ohren und erfreuliches Wohlwollen. Wenn es aber dann um die Umsetzung der gewährten Zugeständnisse geht, wird es deutlich schwieriger. Das sieht man nirgends deutlicher als bei der ärgerlich schleppenden Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes und der UN-Behindertenrechtskonvention. Wenn wir es schaffen, diese Diskrepanz in Zukunft zu vermeiden und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung schneller und besser umzusetzen, dann gewinnen wir als Gesellschaft.»
Madeline Stuart – das Model mit dem Down-Syndrom
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Madeline Stuart – das Model mit dem Down-Syndrom
Die Australierin Madeline Stuart – mit Down-Syndrom geboren – schafft, was viele nie für möglich hielten. Sie ist als Model international gefragt.
quelle: x02844 / andrew kelly
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Video: watson
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