Die Wucht der Masse ist nicht zu unterschätzen. Es ist kurz vor 8 Uhr morgens am zweitgrössten Bahnhof der Schweiz – in Bern. Die Pendlerströme der Rushhour wirken wie Tsunamis auf jene, die zu ihren Zügen gelangen wollen.
Die einzige Chance, um in den Wellen an Menschen nicht unterzugehen: ausweichen. Hastig ein Manöver nach links, als einem eine Gruppe Jugendlicher am Smartphone entgegenkommt. Schnell ein Schritt nach rechts, bevor man droht, mit dem gestressten Manager im Anzug zu kollidieren.
Doch inmitten dieser Pendlerflut kann einer nicht einfach ausweichen: Erdin Ciplak (37), einer der berühmtesten Blinden Europas. Er geht auf dem signalisierten Leitstreifen für Blinde, trotzdem stösst er regelmässig mit Menschen zusammen, die darauf stehen bleiben oder den Mann mit dem Blindenstock (Langstock) nicht kommen sehen.
Das ist nur einer von vielen solcher Kommentare, die TikTok-User zu Ciplaks Videos schreiben. Auf der Social-Media-Plattform ist er eine Bekanntheit, seine Videos haben Millionen von Klicks. Und sein User-Name ist Programm: «Mr.BlindLife» klärt die Menschen darüber auf, wie das Leben als Blinder ist.
Für Erdin Ciplak aka «Mr. BlindLife» ist es aber kein Spass, dass er «Entschuldigung, ich bin blind.» rufen muss, damit Pendler die Blindenleitsysteme freihalten.
Mit welchen Herausforderungen Menschen mit einer Seheinschränkung im Alltag konfrontiert sind und wie die Situation für sie an den Bahnhöfen in der Schweiz ist, darüber hat watson mit «Mr. BlindLife» bei einem Treffen in Bern gesprochen.
573’000 Follower auf TikTok. 118’000 Abonnenten auf YouTube. Und fast 60’000 auf Instagram: Erdin Ciplak hat sich als «Mr. BlindLife» eine Reichweite aufgebaut, von der mancher Influencer träumt. Doch der heute 37-Jährige weiss noch genau, wie lange und schwierig der Weg dahin war.
«Ich kenne es nicht anders», sagt Ciplak, als er in einem Café nahe dem Bundeshaus seine Geschichte erzählt. Geboren sei er 1986 in der Nähe von Gelsenkirchen, einer Stadt in Nordrhein-Westfalen. Seine Sehbeeinträchtigungen habe er schon immer. «Grüner Star, grauer Star, Netzhautablösung und Kalkinfarkte» sind nur einige der Diagnosen, die Ciplak als Baby gestellt wurden.
Um die 50 Augenoperationen hat Ciplak schon hinter sich, die meisten davon hatte er bis zu seinem sechsten Lebensjahr. «Dank der Behandlungen wurden schlimmere Schäden durch die Krankheiten, etwa an meinem Gehirn, verhindert», sagt er. Und: «So wurden meine zwei Prozent Sehstärke gerettet. In Deutschland gelte ich damit als gesetzlich blind.» Doch diese zwei Prozent würden einen Unterschied ausmachen, wenn man sie trainiere.
Ciplak besuchte vom Kindergarten bis zum Abitur Schulen, welche speziell für blinde und sehbehinderte Kinder waren. «Wie schlecht ich sehen konnte, wurde mir erst richtig bewusst, als ich mich im Studium an der HAW Hamburg mit anderen Gleichaltrigen verglich, die nicht blind waren», erinnert sich Ciplak zurück. Aus diesem Grund setze er sich heute auch für «inklusive Schulen» ein, in denen Kinder in Schulklassen mit anderen Kindern seien, die eine körperliche Beeinträchtigung haben.
Denn ihm selbst sei die plötzliche Umstellung schwergefallen. «Täglich damit konfrontiert zu sein, wie viel besser andere sehen können, war nicht einfach», sagt er. Ciplak merkte, dass er sich tiefgreifend mit seiner Blindheit auseinandersetzen musste. Dabei half ihm auch seine Freundin und mittlerweile Ehefrau Jasmin, die ebenfalls eine Seheinschränkung hat – seine Mrs. BlindLife.
Ciplak merkte in dieser Zeit: «Früher benutzte ich fast nie einen Blindenstock, weil ich mich dagegen wehrte. Doch seit ich damit umgehen kann, ist er eine riesige Hilfe geworden.» Seine Erkenntnisse postete er regelmässig auf seinem eigenen YouTube-Kanal. Jedoch mit mässigem Erfolg. Doch alles sollte sich ändern, als seine jüngere Cousine ihm Anfang 2020 von TikTok erzählte.
Ausgerechnet der früher verhasste Blindenstock war es dann auch, der ihm sein erstes virales Video mit Hunderttausenden Klicks einbrachte. Die TikTok-User konnten ihre Augen nicht lassen von dem blinden Mann, der trotz vieler Hürden versucht, auf dem Leitstreifen für Blinde zu gehen.
Ciplak erklärt sich seinen Erfolg so: «Für viele sind die Leitstreifen-Videos pure Unterhaltung. Was passiert? Tritt ihm jemand auf den Blindenstock? Wird er stolpern oder gar hinfallen? Und die TikTok-User mögen es, sich über andere aufzuregen.»
Damit sich Blinde und Sehbehinderte mithilfe des Blindenstocks in der Öffentlichkeit zurechtfinden, wurden für sie taktile (also tastbare) Bodenleitsysteme, auch Blindenleitsysteme genannt, erstellt. Das sind Linien auf dem Boden, die man als Leitstreifen bezeichnet, und Punkte, die als Aufmerksamkeitsfelder bezeichnet werden.
Während Leitstreifen dazu dienen, Blinde sicher an ein Ziel zu führen, können Aufmerksamkeitsfelder auf einen Richtungswechsel hindeuten oder als Warnfelder für Hindernisse gelten. Ursprünglich wurden diese in Japan erfunden, wo die Leitstreifen alle in gelber Farbe sind.
«In Deutschland und der Schweiz sind sie aber mehrheitlich weiss. Ich finde das schade, denn die gelben Leitstreifen helfen vielen Sehbehinderten, sich besser zu orientieren», sagt Ciplak dazu.
«Viele denken, dass alle Blinde nur noch ein schwarzes Nichts sehen. Doch das stimmt nicht. Viele der gesetzlich Blinden und Sehbeeinträchtigten haben noch ein minimales Sehvermögen», erklärt Ciplak. Für solche Menschen könne eine kontrastreiche, farbliche Gestaltung der Leitstreifen eine grosse Unterstützung sein.
«Mr. BlindLife» hat es sich deshalb zum Ziel gemacht, darauf aufmerksam zu machen, wie man die Blindenleitsysteme verbessern könnte. Dafür hat er einige Ideen: «Überall gelbe und gut fühlbare Leitstreifen wären eine grosse Unterstützung.» Langfristig könne man auch smarte Leitstreifen einführen, die beispielsweise bei Aufmerksamkeitsfeldern Hinweise an das Smartphone senden würden. «Und es braucht Beschilderungen, dass die Blindenleitsysteme lediglich für Blinde und Seheingeschränkte sind und deshalb freizuhalten sind», sagt Ciplak. Auch auf TikTok haben einige User kreative Ideen.
Erdin Ciplak betreibt aber nicht nur Aufklärungsarbeit für Blinde, er bringt sich in seiner Heimat auch aktiv ein. «In Hamburg bin ich in ein Projekt involviert, den öffentlichen Verkehr für Blinde und Seheingeschränkte zugänglicher zu machen. Damit wir besser Bus und Bahn fahren können», sagt «Mr.BlindLife». Landesweit das System umzustellen, sei jedoch nicht so einfach. Dafür müsse in Deutschland noch viel passieren, meint er. Dasselbe Potenzial habe die Schweiz, ergänzt Ciplak.
Zurück zum Bahnhof Bern, der sich bis 2029 im Grossumbau befindet: Für watson hat «Mr. BlindLife» die Blindenleitsysteme vor Ort getestet. Sein Fazit: durchzogen.
«Die Menschen waren freundlich und gingen meistens aus dem Weg, das ist schön. Auch die Leitstreifen in Bern sind gut zu fühlen, aber ich vermisse einige Aufmerksamkeitsfelder», sagt Ciplak. Diese gebe es zwar, doch sie würden sich anfühlen wie Leitstreifen. «Mr. BlindLife» kritisiert auch gewisse Leitstreifen, die verwirrend seien, weil sie im Zickzack verlaufen würden. Und: «Teilweise war der Boden ähnlich hell wie die Leitstreifen, was ich mit meiner zweiprozentigen Sehstärke nicht unterscheiden konnte. Die Farbe Gelb wäre auch hier die Lösung.»
Auch der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) äussert sich gegenüber watson zu den aktuellen Blindenleitsystemen. Zur Situation am Bahnhof Bern schreibt eine Sprecherin des SBVs: «Die Orientierung erfordert hohe Konzentration wegen der Pendlerströme. Zudem sind die Handlaufschilder in einem bedenklichen Zustand. Entweder sind diese fehlerhaft oder sie fehlen komplett.» Die SBB haben eine Anpassung in Aussicht gestellt.
Genau wie «Mr. BlindLife» sieht man auch beim SBV in der Schweiz noch viel Potenzial: «Personen mit Sehbeeinträchtigung erleben es häufig, dass die Blindenleitsysteme durch Gepäck, andere Menschen, Werbetafeln oder andere Hindernisse blockiert werden.» Dies geschehe meistens durch Unachtsamkeit. Zu einer permanenten Beschilderung, die über die Leitstreifen aufklärt, schreibt der SBV: «Solche Aktionen sind überlegenswert. Jedoch müssen solche Installationen an Standorten aufgestellt werden, wo diese die Orientierung nicht beeinträchtigen oder selber zu keinem Hindernis werden.»
Und was sagen die SBB dazu? Eine Sprecherin schreibt: «Dass im Alltag taktile Linien zum Teil verstellt werden – ob aus Unwissenheit oder Unaufmerksamkeit – stellen auch wir fest.» Man versuche, Missstände rasch zu beheben. Zum Bahnhof Bern verteidigen sich die SBB, dass alle Projekte von einem «Behindertenbeirat begleitet» werden. «Für den Bahnhofsumbau werden Konzepte erarbeitet, speziell auch mittels taktil-visuellen Linien. Wann diese umgesetzt werden, lassen die SBB offen.
Bei der Frage, wie viel Potenzial die Schweizer Bahnhöfe noch haben, um eine Gleichstellung von Blinden zu erreichen, verweisen die SBB auf das Bundesamt für Verkehr (BAV). Dort schreibt ein Sprecher gegenüber watson, dass man die aktuellen Massnahmen als «absolut zweckmässig» erachte. Diese seien auch mithilfe des Behinderten-Dachverbands Inclusion Handicap erstellt worden.
Spannend ist vor allem, was das BAV zu den Leitstreifen schreibt. «Die Sicherheitslinie entlang der Perronkante richtet sich sowohl an Normalsehende als auch an Personen mit Sehbeeinträchtigung (deshalb ist ein Mindestkontrast einzuhalten) und an blinde Menschen (deshalb ist sie taktil gehalten und mit dem Blindenlangstock ertastbar).»
Das Bundesamt sieht die Blindenleitsysteme also auch gleichzeitig als Abstandsmarkierung zu den Gleisen. In den Worten des BAV stellen sie eine «Begrenzung des sogenannten sicheren Perronbereichs» dar. Die Notwendigkeit, die Blindenleitsysteme zu beschildern, sieht das BAV nicht: «Die Erforderlichkeit von zusätzlichen Sensibilisierungsmassnahmen hat das BAV mit den Bahnen bereits mehrmals diskutiert. Die Wirkung einer solchen Kampagne wird stark infrage gestellt.»
Anders sieht dies «Mr. BlindLife». Er sagt: «Wenn Leitstreifen den Sicherheitsabstand zum Gleis markieren sollen, dürfte ich diese als blinde Person auch nicht benützen – ich müsste Abstand halten und vor der Linie sein. Doch ich muss den Leitstreifen entlanglaufen, um mich zu orientieren.» Wichtig sei für ihn also, dass andere Menschen die Blindenleitsysteme nicht blockieren.
In der Schweiz scheint noch Potenzial vorhanden zu sein, damit blinde und seheingeschränkte Menschen im Alltag gleichgestellt sind. Erdin Ciplak aka «Mr. BlindLife» trägt seinen Teil dazu bei. Er bedankt sich nach dem Interview für die Chance, den Menschen die Augen öffnen zu dürfen, und verabschiedet sich in Richtung Bahnhof, wo ihn die Pendlerströme bereits erwarten. Mit einem «Leitstreifen freihalten» verschwindet er in den Wellen der Masse.
Es wurde mir bereits als Kind eingetrichtert, das dieser frei bleiben muss.
An diesen Orten ist oft überhaupt nichts vorhanden!