«Ich bezeichne mich selbst als behindert», sagt die Walliserin Vanessa Grand gleichgültig. Wegen der Glasknochenkrankheit sitzt sie schon ihr Leben lang im Rollstuhl. Werner Ruch aus dem Linthgebiet, der als Folge der Kinderlähmung ebenfalls im Rollstuhl sitzt, spricht hingegen lieber von «behindert werden». Denn: «Mit den Grenzen meines Körpers kann ich mich arrangieren. Behindert werde ich vor allem von meiner Umwelt.» Diesem Punkt stimmt auch Vanessa Grand zu.
Beide pilgern diesen Freitag nach Bern. Dort findet im Bundeshaus zum ersten Mal eine Session nur mit Behinderten statt. Einen Nachmittag lang belegen 42 Menschen mit Behinderung genau 22 Prozent der Parlamentssitze. Diese Zahl steht für die 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die gemäss des Bundesamtes für Statistik auf irgendeine Weise als behindert gilt.
Behinderten-Session? Haben die Betroffenen nicht die letzten Jahre dagegen gekämpft, als Behinderte abgestempelt zu werden und pochten nicht gerade Heime und Pro Infirmis auf den Ausdruck «Menschen mit Behinderung»? Die Organisatorin Pro Infirmis schreibt auf ihrer Website, dass der Titel bewusst gewählt worden war: «Das Thema ‹Behinderungen› soll nicht versteckt, sondern diskutiert und enttabuisiert werden.»
Ausserdem beziehe sich der Titel auf die gesetzliche und sprachliche Realität. So gibt es in der Schweiz das «Behindertengleichstellungsgesetz» und die «Behindertenrechtskonvention» der UNO, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Es setzt also eine neue Bewegung ein: die Wiederaneignung des Worts «Behinderte».
Denn Menschen mit Behinderung werden seit Jahrhunderten mit Worten betitelt, die auf negative Weise auf ihre medizinische Abweichung von der Norm hinwiesen. Auch Werner Ruch kann sich noch erinnern, wie es sich anfühlte in der einer Klinik untergebracht zu sein, die sich früher noch «Anstalt für krüppelhafte Kinder» genannt hatte.
Als sich ab den 1960er-Jahren in verschiedene Behindertenbewegungen der Begriff «Behinderung» etablierte, hofften viele, dass damit endlich den sozialen Hindernissen, die ihnen in den Weg gestellt werden, Rechnung getragen wird. Man wollte wegkommen von der rein medizinischen Brille, die nur Defizite sah. Nach dem Motto: «Ich bin nicht behindert, ich werde behindert.» Nichtsdestotrotz funktionierten Jugendlichen den neutralen Begriff ab den 2000ern wieder zur Beleidigung um.
Zurück auf Feld eins? «Wir waren nie wirklich einen Schritt weiter», glaubt Ruch und nennt die Bezeichnung «Invalide» - was wörtlich übersetzt ‹wertlos› oder ‹ungültig› bedeutet. Seiner Meinung nach ist ein neuer Begriff für Menschen mit Behinderung gleichbedeutend mit einem neuen Hausanstrich: «Es ändert sich nur äusserlich etwas.» Von der Gesellschaft werde man nach wie vor als weniger wert angesehen. Deshalb müsse sich tiefgründig etwas ändern. Und genau dafür will Ruch sich in Bern stark machen.
Vielleicht hilft der bewusst provokativ gewählte Titel aber auch, Aufmerksamkeit für die eigenen Anliegen zu schaffen. Im Zentrum der Behindertensession steht nämlich die Verbesserung der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Zwei Minuten hat jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer Zeit, um vorzutragen, was das für sie bedeutet. Denn: Behinderung ist nicht gleich Behinderung. Die erlebten gesellschaftlichen und politischen Hindernisse sind vielfältig. Das wird klar, wenn man mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern spricht.
Das Spektrum beginnt bei Menschen mit einem gesetzlichen Vormund, die nicht abstimmen dürfen - selbst wenn sie kognitiv zu einer informierten Entscheidung fähig wären. Und es endet bei aktiven Politikern wie Nationalrat Christian Lohr, der seit 2011 im Nationalrat den Thurgau vertritt und dennoch erst 2021 Zugang zum Rednerpult erhielt. Lohr sitzt wegen einer Contergan-Schädigung im Rollstuhl. Er kam ohne Arme und mit missgebildeten Beinen zur Welt. Eine Rampe zum Rednerpult gab es für ihn ein Jahrzehnt lang nicht.
«Im Alltag wird uns das Leben schwerer gemacht, als es eigentlich sein müsste - auch auf politischer Ebene», hält Jürg Brunner deshalb fest. Auch er wird als Sehbehinderter an der Behindertensession teilnehmen. Im vergangenen Jahr wurde er Präsident im St.Galler Stadtparlament - durch Zufall, denn der eigentliche Präsident fiel unverhofft aus. «Unter normalen Bedingungen wäre ich nie in dieses Amt gewählt worden», ist Brunner überzeugt. Für viele Aufgaben, die ein Stadtpräsident vornehmen muss, galt Brunner wegen seiner Sehbehinderung als ungeeignet. Dass es dennoch möglich war, bewies der 63-Jährige dank viel Eigeninitiative.
Doch auch als Bürger erleben Jürg Brunner, Werner Ruch und Vanessa Grand immer wieder Hürden, die ihnen die Teilnahme in der Politik erschweren. Brunner weist etwa darauf hin, dass Blinde ohne Hilfe keine Abstimmungsunterlagen ausfüllen können, was eine geheime Abstimmung verunmöglicht. Und Ruch und Grand stören sich an zahlreichen Staatsgebäuden, die noch immer nicht hindernisfrei sind.
In diesen Punkten kritisierte auch der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) die Schweiz im Frühling 2022. Ihr Bericht legte jedoch noch prekärere Ausgangslagen offen: «Es wurden Fälle gemeldet, bei denen die Abstimmungsunterlagen von in Institutionen wohnhaften Menschen mit Behinderung pauschal vernichtet wurden, ohne dass die davon betroffenen Personen im Hinblick auf die konkrete Wahl/ Abstimmung diesbezüglich gefragt worden wären.»
Schweizerinnen und Schweizer, die aufgrund ihrer Behinderung im Heim leben, müssen sich ergo oftmals aktiv dafür einsetzen, dass sie ihre Abstimmungsunterlagen überhaupt erhalten. Denn wie der UN-BRK auch kritisiert, sondert man Menschen mit Behinderung in der Schweiz noch immer zu stark von der restlichen Bevölkerung ab, indem man sie in geschlossenen Institutionen unterbringt.
Im Gespräch mit Vanessa Grand, Werner Ruch und Jürg Brunner wird klar: Politisch ebenso mitreden zu können wie Menschen ohne Behinderung, bedeutet für sie häufig ein Mehraufwand. Diesen nehmen die drei gerne in Kauf, um für ihre Rechte zu kämpfen. Sie beschreiben sich als leidenschaftlich oder als «Kämpfernatur». Doch nicht alle Menschen mit Behinderung wollten und könnten auf politischer Ebene kämpfen, sagt Vanessa Grand. «Denn oft ist der Alltag mit Behinderung schon Kampf genug.» (aargauerzeitung.ch)
Es sind in erster Linie einfach Menschen, welche durch eine "Beeinträchtigung" eine Einschränkung erfahren - nicht mehr, nicht weniger. Auch wenn ich manchmal nicht sicher bin ob ich mit der Frage "kann ich helfen" diese Vorurteile sogar noch unterstütze, sind es für mich Menschen wie jeder andere.
Seitdem sind fast 30 Jahre vergangen aber geändert hat sich nicht viel… Andere Länder sind da irgendwie weiter. In den Niederlanden wird zum Beispiel versucht jedem Zugang zum Strand zu verschaffen durch Holzplanken im Sand und Beach-Rollstühlen die kostenfrei ausgeliehen werden können.