Wer darf künftig noch komplexe Bauchoperationen durchführen? Diese Frage sorgt in vielen Spitälern gerade für grossen Unmut. Denn geht es in der Schweiz um Hochspezialisierte Medizin (HSM), entscheidet ein von den kantonalen Gesundheitsdirektoren bestelltes Gremium, wer die seltenen und aufwendigen Eingriffe durchführen darf.
Gerade brodelt es wieder. Am Anfang der Eskalation steht ein freundlich formulierter Brief von Ende November, in welchem zwei Chefchirurgen Kritik an der Vergabe-Praxis des HSM-Gremiums üben. Der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie, Christian Toso, und der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Viszeralchirurgie, Antonio Nocito, äussern ihren Unmut, nachdem zwei wichtige Leistungsaufträge im Bereich der Viszeralchirugie verteilt wurden: die tiefe Rektumresektion bei Erwachsenen (Teilentfernung des Enddarms) sowie die komplexe bariatrische Chirurgie (Eingriff zur Reduktion des Körpergewichts).
Beide Ärzte beteuern, die Qualität sei wichtig. Aber sie weisen darauf hin, dass Mindestfallzahlen bei komplexen Behandlungen nicht der einzige Massstab für den Erfolg eines Eingriffs seien. Es gelte, auch weitere Fachdisziplinen wie die Onkologie, Strahlentherapie, Gastroenterologie oder interventionelle Radiologie bei der Vergabe zu berücksichtigen. Weiter äussern sie die Sorge, dass die HSM-Kriterien ständig verschärft werden und Zentrumsspitäler dadurch nicht nur wichtige Aufträge, sondern auch ihre Rolle als Ausbildungsstätte verlieren könnten. Mittelfristig führte dies zu einer möglichen Unterversorgung der Bevölkerung.
Die Hauptkritik der beiden Chefchirurgen zielt aber darauf ab, dass das System der HSM-Aufträge nicht durchlässig sei: Spitäler, die einen Auftrag in der Hochspezialisierten Medizin verlieren, hätten keine Chance, diesen zurückzugewinnen. Denn ein Spital, das die Mindestfallzahlen nicht erreicht, erfüllt die Vorgaben nicht. Nur: Ohne Auftrag gibt es überhaupt keine Fälle. «Hier wäre es wünschenswert, Regeln nach klaren Leistungskriterien zu schaffen, die eine Wiedererlangung eines Leistungsauftrages ermöglichen», schreiben Christian Toso und Antonio Nocito in ihrem Brief und wünschen einen Austausch mit den HSM-Gremien.
Der Brief ist an die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli, Präsidentin des HSM-Beschlussorgans, und den ehemaligen Arzt Martin Fey, Präsident des HSM-Fachorgans adressiert.
Das Ausmass der HSM-Entscheide ist nicht zu unterschätzen: 37 Spitäler warben um den Auftrag der Rektumresektion bei Erwachsenen, 15 erhielten den Zuschlag. 33 Spitäler wollten weiterhin komplexe bariatrische Chirurgie durchführen, 21 dürfen das auch 2024 noch tun. Gemäss einer Medienmitteilung der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) erfüllen die «nicht berücksichtigten Bewerber» eine oder mehrere Anforderungen nicht und sind für die Abdeckung des Versorgungsbedarfs nicht «relevant».
Der Brief bleibt unbeantwortet. Martin Fey reagiert erst auf einen Meinungsbeitrag von Antonio Nocito im Tages-Anzeiger: Die nationale HSM-Steuerung der Bauchchirurgie regle nur etwa 1 bis 2 Prozent aller Eingriffe, schreibt Fey in der Replik. Die Konzentration der Leistungen sei zur Sicherung der Qualität das einzig Richtige. Auch sei ein Wiedereintritt «denkbar»: Alle sechs Jahre würden die Mandate schweizweit ausgeschrieben.
Viele Spitäler empfinden die Aussage als «Hohn», wie aus einem neuen Brief der vier CEOs der Spitäler Thurgau, Baden, Graubünden und Biel hervorgeht. Durch Feys Aussagen fühlen sich auch andere Chefchirurgen provoziert, sie ventilieren ihren Ärger auf den sozialen Medien: Es sei «reine Hypokrisie», zu sagen, die HSM-Mandate würden alle sechs Jahre ausgeschrieben, schreibt Markus Müller, Klinikdirektor Chirurgie Spital Thurgau auf der Plattform «Linkedin».
Urs Zingg, Chefarzt Chirurgie am Spital Limmattal, pflichtet dem Berufskollegen bei: Die HSM-Organe agierten «mehr und mehr wie Eiferer» und fokussierten nur auf operative Mindestfallzahlen. Und Markus Furrer, Leiter Departement Chirurgie am Kantonsspital Graubünden, ergänzt: «Es geht nun leider nicht mehr um eine chirurgische Qualitätsverbesserung. Die anfänglich gut gemeinte HSM-Idee ist zu einer dogmatisch etatistischen - und eben nicht wissenschaftlich basierten - Regulierung von längst nicht mehr hochspezialisierten Leistungen verkommen.»
Die Spitalplanung verfolgt die Ziele, die Bevölkerung bedarfsgerecht zu versorgen sowie die Kosten einzudämmen und Überkapazitäten abzubauen. Was das im vorliegenden Fall bedeutet, zeigt der Bericht für die HSM-Aufträge in der Viszeralchirurgie. Im Teilbereich der Rektumresektion führten 89 Spitäler im Schnitt 783 Eingriffe pro Jahr durch, wie das Bundesamt für Statistik aus den Jahren 2016-2018 ermittelte. 85 Prozent der Spitäler kommt jährlich auf weniger als zwanzig Fälle, fünfzig Spitäler zählen sogar lediglich fünf oder weniger Fälle pro Jahr.
Ab 2024 dürfen den Eingriff noch 15 Spitäler machen. Offen ist angesichts der Kritik, ob es 2030 immer noch dieselben sein werden.