Kletterin wird im Jura von Schlange gebissen – und erlebt danach ein Martyrium
Bevor ich euch meine Geschichte erzähle, möchte ich klarstellen, dass ich keinesfalls eine Panikwelle auslösen möchte. Was ich erlebt habe, ist relativ selten. Ihr braucht also keine Angst zu haben. In der Schweiz gibt es etwa 50 Bisse pro Jahr, und etwa die Hälfte davon sind sogenannte «trockene» Bisse, bei denen die Viper kein oder nur sehr wenig Gift injiziert. Man kann also davon ausgehen, dass ich zu den Privilegierten gehöre.
- Präzision des Reptilien- und Amphibien-Experten Michel Ansermet: «Im Jahr 2022 gab es genau 54 Vipernbisse in der Schweiz. In der Literatur wird davon ausgegangen, dass 60 Prozent davon trocken sind. Sie werden meist Schlangen zugeschrieben, die in ihrer Umgebung überrascht werden. Mit ihrem Biss wollen sie vor ihrer Anwesenheit warnen und nicht ein Beutetier töten.»
Der Unfall ereignete sich an einem Samstag. An diesem Tag war ich mit meinem Freund im Klettergebiet Saint-Loup unterwegs. Der Ort in der Gemeinde Pompaples ist bei Kletterern sehr beliebt.
Hier ereignete sich der Vorfall:
Ich begann ohne Schwierigkeiten mit einer Aufwärmroute an einer Wand. Als ich kletterte, legte ich meine Hand auf einen Felsvorsprung und spürte sofort einen kleinen Stich. Ich machte mir keine weiteren Sorgen und dachte, dass ich mich vielleicht eine Kiefernnadel oder etwas Ähnliches gestochen hatte. Aber als ich auf der Schwelle ankam, sah ich einen Blutstropfen zwischen Daumen und Handgelenk. Vor allem aber entdeckte ich, dass dort eine kleine Viper lag, die ruhig in der Sonne gelegen hatte. Sie lag da mit weit aufgerissenem Maul und sah mich an, als wollte sie sagen: «Hau ab!».
- Michel Ansermet: «In der Gegend von Saint-Loup trifft man besonders die Aspisviper an. Es handelt sich um eine der Schlangen mit der grössten Farbvielfalt.»
Weil die Schlange sich zusammengerollt hatte, war es schwierig, ihre Grösse abzuschätzen, aber sie hatte einen kleinen Kopf, etwa 2 cm lang und 1 cm breit. Der Biss war weniger schmerzhaft als ein Wespenstich und es handelte sich wohl um eine junge Schlange.
- Michel Ansermet: «Wenn ihr Kopf diese Masse aufwies, handelte es sich wohl um eine ausgewachsene Viper. Diese werden in der Westschweiz im Schnitt etwa 40 bis 45 Zentimeter lang, die Grössten messen maximal 60 Zentimeter.»
Nach dem Biss habe ich sofort meinen Freund informiert. Er wollte seinen Augen nicht trauen. Da ich weiss, dass auf ein solches Missgeschick eine allergische Reaktion folgen kann, habe ich mich hingesetzt und etwa zehn Minuten gewartet. Es passierte jedoch nicht viel und ich hatte auch keine grossen Schmerzen. Erst nach einer halben Stunde schwoll meine Hand stark an und die Schmerzen setzten ein. Also rief ich die Giftnotrufzentrale an. Als ich etwa 45 Minuten nach dem Biss in der Klinik in Saint-Loup ankam, erreichte die Schwellung bereits mein Handgelenk.
Da sich das Ödem schnell über zwei Gelenke hinaus ausgebreitet hatte, stellte sich die Frage, ob sie mir ein Gegengift verabreichen sollten. Doch mein Arm schwoll nicht in einer besorgniserregenden Geschwindigkeit an, versicherten mir die Ärzte und man entschied sich dagegen. Ausserdem fühlte ich mich abgesehen von den Schmerzen körperlich fit: Ich verspürte keine Übelkeit, musste nicht Erbrechen und hatte keinen niedrigen Blutdruck.
Da das Gift auch sechs bis acht Stunden nach der Injektion noch Schäden anrichten konnte, verbrachte ich die Nacht im Krankenhaus und wurde ständig überwacht. Zwischen meiner Ankunft gegen 16 Uhr und meiner Entlassung am nächsten Tag um 14 Uhr wurden mir drei Blutproben entnommen. Als ich aus meinem Zimmer kam, war ich auf der rechten Seite bis zu den Rippen aufgebläht. Eine Brust war grösser als die andere, das war beeindruckend! Ich hatte auch starke Schmerzen in der Ellenbeuge und in der Achselhöhle, wo sich die Lymphknoten befanden. Ich hatte das Gefühl, dass mein Arm unter einen Lastwagen geraten war.
Da ich Immobilienmaklerin und Fotografin bin, konnte ich eine Woche lang nicht arbeiten. Während dieser Zeit fühlten sich meine Muskeln im Unterarm und Trizeps merkwürdig an, wie bei einer Art beginnender Krampf. Das hielt etwa zehn Tage lang an.
Es dauerte fast drei Wochen, bis sich das Ödem vollständig zurückgebildet hatte und dass alles wieder normal war. Der Heilprozess wurde dank Massagen der Lymphgefässe beschleunigt. Man sollte sie nach einem Biss nicht sofort machen, also musste ich fünf Tage warten. Auch der Kompressionsverband hat sehr geholfen.
Jetzt ist alles in Ordnung, ich habe mich vollständig erholt. Am schlimmsten war jedoch die Angst. Ich befürchtete, dass ich das Gegengift doch noch einnehmen muss. Das Mittel wird unter strenger Aufsicht auf der Intensivstation verabreicht, was dazu führte, dass ich mir viele Szenarien ausmalte, eines schrecklicher als das andere, in denen ich ums Überleben kämpfte.
- Michel Ansermet: «Das Gegengift wird in der Tat nur auf der Intensivstation verabreicht, dazu kommt es aber nur sehr selten. In der Schweiz wird es vielleicht einmal alle zwei oder drei Jahre gespritzt.»
Es heisst, nach einem Vipernbiss sei man im Falle eines zweiten Bisses anfälliger auf das Gift, da das Allergierisiko steigt. Ich hatte aber bereits Pech, einmal gebissen zu werden, ein zweites Mal widerfährt mir das bestimmt nicht, oder?
- Michel Ansermet: «Die Forschung zeigt tatsächlich, dass ein zweiter Biss stärkere Reaktionen hervorrufen kann.»