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Selbsthilfegruppen im Netz für Jugendliche: Eine Gefahr?

Viele Jugendliche suchen online nach Gleichgesinnten, um sich über persönliche Probleme auszutauschen. 
Viele Jugendliche suchen online nach Gleichgesinnten, um sich über persönliche Probleme auszutauschen. bild: shutterstock

Wenn die Seele schmerzt und das Internet die einzige Hoffnung ist

Jugendliche nutzen soziale Medien nicht nur, um Selfies zu posten, sondern auch um sich über persönliche Probleme auszutauschen. Das birgt viel Potenzial – aber auch Gefahren. 
07.12.2018, 09:1908.12.2018, 13:54
Helene Obrist
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«Der Account @deinTherapeut ist ein Desaster. Sein Name ist eine Anmassung, sein Aktivismus ein Witz, seine Community toxisch» – mit diesen Worten startet die Twitter-Userin und Bloggerin Robin einen kleinen Shitstorm. Stein des Anstosses: Twitter-User Norman oder @deinTherapeut, 25-jährig, über 34'000 Follower, ehemaliger Psychologie-Student und seines Zeichens «Mental-Health-Aktivist».

Im März 2018 eröffnete Norman auf Discord, einem Online-Dienst, der Internet-Telefonie und Chat-System zugleich ist, einen neuen semi-öffentlichen Server. Er nannte ihn «Gruppentherapie» und schrieb dazu: 

«Ich mache das zum ersten Mal und bin ein bisschen planlos. Aber: Es gibt jetzt einen Discord-Server. Der heisst Gruppentherapie und ist zum Nicht-alleine-Sein gedacht.»

Nach vier Monaten hatte der Server laut Norman über 3000 Mitglieder. In dieser virtuellen Selbsthilfegruppe tauschen sich seither zahlreiche User, darunter viele Jugendliche, auf zahlreichen Kanälen über verschiedenste Themen aus.  

Dazu gehören auch sehr persönliche und explizite Beschreibungen von Selbstverletzungen oder Suizidgedanken. Und genau das wird derzeit auf Twitter harsch kritisiert. Viele Nutzer werfen Norman vor, dass er verantwortungslos mit dem Server umgehe. Dass vermehrt Suizide angedroht werden und nicht darauf reagiert werde und dass Minderjährige als Moderatoren und «Helferlein», agieren und die Diskussionen leiten. 

Unterdessen hat sich sogar der Berufsverband Deutscher Psychologen zum Streit geäussert. In einer bereits wieder zurückgezogenen Stellungnahme* kritisiert der Verband die digitale Selbsthilfegruppe. Es bestehe die Gefahr, «dass die Beschreibung von selbstverletzendem oder suizidalem Verhalten für andere Jugendliche triggernd und im schlimmsten Fall eigenes selbstverletzendes Verhalten auslösen kann.» Zudem müssten Jugendliche, die als «Helferlein» Diskussionen moderieren, zwingend professionell geschult werden.  

Dem stimmt auch Thomas Brunner, Leiter von Beratung + Hilfe 147 (ein Angebot von Pro Juventute) zu. Es sei aber zu weit gegriffen, den Server der «Gruppentherapie» komplett zu verteufeln. «Solche Formate können durchaus ihren Nutzen haben», erklärt Brunner. Wenn Jugendliche ihr Schweigen brechen können, indem sie sich mit Gleichgesinnten über persönliche Probleme austauschen, sei das grundsätzlich zu begrüssen. 

Lass dir helfen!
Du glaubst, du kannst eine persönliche Krise nicht selbst bewältigen? Das musst du auch nicht. Lass dir helfen. In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen da sind – vertraulich und kostenlos.

Die Dargebotene Hand: Tel.: 143, www.143.ch
Beratung + Hilfe 147 für Jugendliche: Tel.: 147, www.147.ch
Reden kann retten: www.reden-kann-retten.ch

«Das passiert immer häufiger im Netz – auf Kanälen, in denen sich die Jugendlichen sowieso schon bewegen», so Brunner und nennt ein weiteres Beispiel. «Auf Instagram gibt es sehr viele Influencer, die offen über Themen wie die psychische Gesundheit sprechen. Das zieht viele betroffene Jugendliche an, die sich bei Gleichgesinnten aufgehoben fühlen.»

depression
Über Probleme zu reden, helfe bereits, sagt der Leiter von Beratung + Hilfe 147.Bild: shutterstock

Problematisch werde es dann, wenn die Beziehungssymmetrie nicht gegeben sei. «Die Peer-to-Peer-Beratung setzt voraus, dass beide Gesprächspartner einander gleichgestellt sind. Es darf nicht impliziert sein, dass jemand mehr weiss als der andere», erklärt Brunner. Dass gewisse Personen als «Helferlein» in Normans «Gruppentherapie»-Chat agieren, sei heikel. 

«Hätten wir Hilfeangebote auf WhatsApp oder Instagram, würden die Anfragen explodieren.»
Thomas Brunner, Leiter Beratung + Hilfe 147

«Wir haben seit April selbst ein Angebot, bei dem von uns geschulte Jugendliche mit anderen Jugendlichen chatten können. Da sind aber stets beide Parteien gleichgestellt, sie sind Kumpels.» Der Chat werde stets von Fachpersonen begleitet. «Eingegriffen wird aber nur im Notfall.»

Peer-Chat bei 147.ch
Teenager helfen Teenagern. Jeden Montag von 19 bis 22 Uhr können sich im Peer-Chat von Pro Juventute Jugendliche mit Gleichaltrigen über ihre Probleme austauschen. Mehr Infos auf 147.ch/de/peer-chat.

Der Chat sei sehr beliebt und werde rege genutzt. «Obwohl wir das anfängliche Angebot verdoppelt haben, sind wir bereits wieder an der Kapazitätsgrenze», sagt Brunner. Der Wunsch der Jugendlichen, sich möglichst unkompliziert und anonym im Netz auszutauschen, sei ungebremst.  

«Hätten wir Hilfeangebote auf WhatsApp oder Instagram, würden die Anfragen wohl explodieren» vermutet der Leiter Beratung + Hilfe 147. Doch das gehe aus datenschutzrechtlichen Gründen noch nicht.  

«Aktuell können wir das nicht verantworten, da die Anonymität nicht gewährleistet ist», erklärt Brunner. «Doch wir sind an den sozialen Kanälen dran. Es wäre grundsätzlich wichtig,  auch dort Beratungsmöglichkeiten für Jugendliche anbieten zu können.» 

*Die Stellungnahme wurde gemäss dem Berufsverband Deutscher Psychologen zurückgezogen, weil sie dem Twitter-User @deinTherapeut die Möglichkeit zu einer Gegendarstellung geben möchten. 

Lehrer-Typen, die du sicher kennst: 

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14 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Butschina
07.12.2018 13:00registriert August 2015
(1)
Das «Sich-gegenseitig-Hochtriggern» ist auch in Psychiatrien ein Problem. Je mehr Borderliner wir auf der Station waren, desto mehr schaukelten wir unsere Selbstverletzungen hoch. Wenn die Pflege nicht rechtzeitig interveniert hätte, wäre damals viel Schlimmeres geschehen. Dennoch braucht es den Kontakt unter Betroffenen. Davor dachte ich, ich wäre die einzige mit solch intensiven Anspannungszuständen und anderes. Bei solchen Seiten wäre es wünschenswert wenn sie professionell begleitet würden. Wie das umgesetzt werden kann weiss ich nicht.
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Butschina
07.12.2018 13:13registriert August 2015
(2)
Betroffene trauen sich in einem ersten Schritt eher sich jemandem mit ähnlichen Problemen anzuvertrauen als einer Fachperson. Viele haben Angst vor den Folgen wenn sie sich bei einer Fachperson öffnen. Ich denke eine Seite mit Ausgebildeten Peers, die sich in einem stabilen Gesundheitszustand befinden, wäre gut. Nur, wer finanziert das?
Es gibt mitlerweile Psychiatrien die Peers angestellt haben. Die Peers verstehen genau wie man sich in Krisensituationen fühlt. Ich hoffe dass solche Stellen weiter zunehmen. Nichtbetroffene können zwar mitfühlen aber nie verstehen wie es sich anfühlt.
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Herbert1
07.12.2018 12:35registriert Dezember 2018
schade, dass in diesem Artikel mit keinem Wort erwähnt wird, dass auf diesem besagten Portal eben auch pornographischer content für Minderjährige zugänglich war. Hauptsächlich aus dem BDSM Bereich. Auf einer Plattform für Jugendliche mit Hang zur Selbstverletzung!! Das wurde vom VPP mit recht kritisiert. Ihnen ist das nicht mal eine Zeile wert und ich wette, Herrn Brunner wurde das auch nicht erzählt, als Sie ihn um eine Beurteilung so eines Angebots gebeten haben. Schade. Schlecht recherchiert.
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