Es ist einer der «schlimmen» Fälle. Eine junge Frau schreibt im Chat, dass sie sich immer wieder die Arme ritzt. Sich also selber Verletzungen zufügt.
«Manchmal erschrecke ich zuerst schon, wenn einem Leute solche Sachen schreiben», sagt die 17-jährige Aurora. Unter diesem Pseudonym chattet die Zürcherin seit April als Beraterin im neuen Help-Chat von 147.ch.
In den Büros von Pro Juventute beraten neu Teenager-Berater Gleichaltrige «frisch von der Leber weg», wie es Peer-Coach Moritz, selbst Profi-Berater, ausdrückt Eine Ausbildung haben die jungen Erwachsenen nicht – und das ist genau der Clou. «Wir chatten eben in Jugendsprache wie mit Freunden», sagt Aurora. So will Pro Juventute Jugendliche noch direkter ansprechen.
Aurora hat selber eine sehr schwierige Jugend durchlebt. «Aus eigener Erfahrung kann ich dich zu Familienstreitereien, Drogen- und Geldproblemen innerhalb der Familie, verbaler Gewalt, Leistungsdruck in der Schule, depressiven Verstimmungen und Ängsten, Selbstzweifeln und Einsamkeit beraten», stellt sie sich auf der Webseite vor.
In den letzten fünf Jahren musste sie über 20 Mal umziehen. Ihr Vater ist drogensüchtig und Alkoholiker. «Ich habe auch Probleme mit meinem Stiefvater. So bin ich schon mit 16 Jahren ausgezogen und lebe jetzt in einer WG», so die zierliche Gymnasiastin, die im direkten Gespräch zurückhaltend wirkt und in knappen Sätzen antwortet.
«Ich habe schon viel durchgemacht. Damals habe ich mich mit meinen Problemen sehr alleine gefühlt.» Darum freue sie sich umso mehr, jetzt Jugendlichen mit Schwierigkeiten zu helfen, sagt sie über ihre Motivation.
Ein junges Mädchen mit Liebeskummer meldet sich im Chat. Das Problem: Sie hat sich in einen viele Jahre älteren Mann verknallt. Und realisiert, dass sie keine Chance hat, sein Herz zu erobern. 💔
Hier kann Aurora auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgreifen. «Wir suchen zusammen nach Ideen, damit sie sich besser fühlt und über die Sache hinwegkommt.» Sie habe der Frau einfach klar gemacht, dass sich die Traurigkeit nach einiger Zeit verflüchtige. «Es ist immer wichtig zu betonen, dass alles gut wird.»
Ein auf den ersten Blick simpler Fall. Eine junge Dame weiss nicht, wie sie ihren Angebeteten ansprechen soll.
«Wir geben eigentlich keine Flirttipps. Vielmehr bringen wir auf kollegialer Ebene eine andere Perspektive auf die Sache ein», sagt Moritz, der als professionell ausgebildeter Berater alle Chats mitverfolgt. «Wir lassen unsere Freiwilligen nicht alleine», sagt der Mittzwanziger.
Die junge Dame meldet sich prompt eine Woche später wieder im Chat.
Dank der Avatare können sich die Betroffenen wieder bei der gleichen Beraterin melden. Ein gewichtiger Vorteil im Vergleich zur Telefon-Hotline 147, wo professionell geschulte Berater völlig anonym blieben.
«Ob dann noch etwas aus dem Flirt geworden ist, weiss ich aber nicht», sagt Moritz. Später wird er wieder ernster. In den bislang durchschnittlich rund zwölf Online-Beratungen pro Abend sei das Thema Selbstverletzung am häufigsten angesprochen worden.
«Manchmal bin ich schon etwas nervös, weiss nicht was antworten», sagt Aurora. In solchen Fällen fragt sie dann die anderen Peer-Beraterinnen um Rat. «In der Gruppe finden wir immer eine gute Antwort.»
Der womöglich schlimmste Fall tritt ein. Eine junge Frau meldet sich im Chat. Ihr geht es so richtig schlecht, äussert Suizidabsichten.
In der Online-Unterhaltung erwähnt sie, dass sie bereits einen Psychiatrie-Aufenthalt hinter sich hat. «Da bin ich schon etwas erschrocken und wollte ja nichts Falsches schreiben», so Aurora. In solch schweren Fällen holt sie die im Raum anwesende Fachperson als Unterstützung dazu.
Aurora hat sich nach den schwierigen Jahren aus ihren Tiefs herausgefunden. Sie besucht das Musik-Gymi, spielt Volleyball und hat ein grosses Ziel. «Ich will einmal Jura studieren, denn ich möchte mich in meinem Leben für andere Leute einsetzen.»