An einem Dienstagmorgen um 6 Uhr schlägt die Polizei an 13 Orten gleichzeitig zu. Im Ostschweizer Grenzort St. Margrethen umstellt eine Sondereinheit das Tattoo-Studio Riverside-Ink. Der Name ist ein Hinweis auf die Szene, die hier verkehrt: die Hells Angels Riverside. So heisst das hiesige Charter der internationalen Rockergang, die regionale Filiale mit Sitz in Buchs.
Das Tattoo-Studio gehört Manuel F., einem 42-jährigen Österreicher, der in der Ostschweiz wohnt und hier mehrere Unternehmen führt. Er ist tief drin in der Szene und mit dem Präsidenten der Hells Angels Riverside befreundet. Seit der Razzia am 23. Januar sitzt Manuel F. im Gefängnis. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Die Dimensionen der Polizeiaktion sind aussergewöhnlich: In den frühen Morgenstunden stehen in Österreich und der Schweiz 180 Polizistinnen und Polizisten im Einsatz. Sie verhaften elf Österreicher und einen Kroaten und beschlagnahmen Kokain, Cannabis, Waffen, Munition, Bargeld und Luxusfahrzeuge.
Das Bundeskriminalamt von Österreich und das Landeskriminalamt Vorarlberg leiten die Operation. Die St. Galler Kantonspolizei leistet Unterstützung und verhaftet drei Österreicher auf ihrem Gebiet.
Für die Justiz von Vorarlberg handelt es sich um den grössten Schlag gegen den Drogenhandel aller Zeiten. Sie verdächtigt die zwölf Männer, mit hundert Kilogramm Kokain und einer halben Tonne Cannabis gehandelt zu haben. Das Kokain sollen sie in den Niederlanden sowie Belgien gekauft und in Österreich, Deutschland sowie der Schweiz weiterverkauft haben. Das Cannabis sollen sie aus Spanien importiert oder in Indoorplantagen in der Schweiz und in Österreich angebaut haben.
Der Strassenpreis für ein Gramm Kokain liegt bei 50 bis 80 Franken. Das gehandelte Kokain hat also einen Verkaufswert von mindestens fünf Millionen Franken.
Der Kokainhandel gilt als das derzeit lukrativste kriminelle Geschäft. Seit sieben Jahren beschlagnahmt die Polizei in Europa jedes Jahr neue Rekordmengen, vor allem in den Häfen der Niederlande, von Belgien und Spanien.
Doch auf den Kokainmarkt scheinen die Razzien keinen Einfluss zu haben. Die Preise bleiben stabil – eine Linie Koks kostet in der Schweiz gleich viel wie ein Cocktail an einer Bar. Die Reinheit steigt sogar. Denn das Angebot ist weiterhin so gross, dass es sich die Dealer nicht leisten können, den Stoff allzu stark zu strecken. Die im Abwasser gemessenen Rückstände sind in Europa von 2011 bis 2023 um 80 Prozent angestiegen.
Normalerweise erwischt die Polizei nur die Strassendealer. In diesem Fall aber hat sie ein Netzwerk von Hintermännern erwischt. Die Bedeutung des Falls beschrieb der Direktor des österreichischen Bundeskriminalamts nach der Razzia so: «Der Kampf gegen das organisierte Verbrechen zählt zu den grössten Herausforderungen unserer Zeit.» Die Ermittlungen geben einen seltenen Einblick ins internationale Drogengeschäft.
Ein Tabu war bisher allerdings, wer die verdächtigten Akteure in diesem Fall sind. Das Bundeskriminalamt gab nur bekannt, dass «zwei führende Mitglieder einer in Vorarlberg ansässigen Rockergruppierung» zu den Verhafteten zählen. Die für ihren angriffigen Stil sonst berüchtigten Österreicher Medien übernahmen das Wording der Behörden und scheuen sich davor, die Organisation beim Namen zu nennen.
Recherchen zeigen: Zu den Verhafteten zählt der Präsident der Hells Angels Vorarlberg. Der 39-Jährige ist angeklagt, einen Teil des Drogenhandels organisiert zu haben. Er soll Lieferanten angewiesen haben, 30 Kilo Kokain und 80 Kilo Marihuana zu importieren.
Die Hells Angels versuchen, sich in der Öffentlichkeit als Männerclub darzustellen, bei dem es nur darum gehe, Männerfreundschaften zu zelebrieren. Pit Heeb, der Präsident der Hells Angels Riverside, sagte vor zwei Jahren in einem «Blick»-Interview: «Nein, Chorknaben sind wir sicher nicht. Aber dieser kriminelle Scheiss, den sie uns da immer anhängen wollen – das stimmt garantiert nicht.»
Mit grossen Drogendeals habe sein Club nichts zu tun: «Nein, Jösses Gott. Weit weg von diesem Seich.» Er fühlt sich missverstanden: «Wir sind Männer und wollen unsere Männlichkeit auch bewahren. Und davon haben wir unsere eigene Vorstellung.» Zum aktuellen Fall schweigt er.
Die Sicherheitsbehörden vieler Länder stufen lokale Ableger der Hells Angels jedoch als kriminelle Organisationen ein. Ihr Geschäftsmodell funktioniert demnach über die Drohkulisse: Wer mit einem Hells Angel Ärger hat, hat die ganze Organisation gegen sich. Das ist für alle möglichen Geschäfte hilfreich. Wer hingegen tatsächlich nur Motorrad fahren möchte, könnte in irgendeinen Töffclub gehen.
Die Strukturen sind über die Jahrzehnte gewachsen. Die erste europäische Filiale entstand 1969 in London. Dann folgten 1970 Zürich und 1975 Vorarlberg. Diese Charter haben bis heute eine überragende Stellung in der Szene. Ihre Präsidenten sind international vernetzt und treten als Streitschlichter auf. Das mag als noble Aufgabe erscheinen. Aber auch hier geht es um Geschäftsinteressen, die durch Konflikte nicht beeinträchtigt werden sollen.
Die Kriminologin Bettina Zietlow hat ausgewertet, welche Delikte die deutsche Justiz den Rockergangs am häufigsten nachweisen kann. Dafür hat sie Gerichtsurteile zu 307 Rocker analysiert. Mehr als 80 Prozent davon erhielten einen Schuldspruch. Am häufigsten waren:
Bei den Drogendelikten handelte es sich meistens um kleinere Mengen Cannabis. Bezüge zur organisierten Kriminalität erkannten die Studienautorinnen nicht. Deshalb taten sie den Drogenhandel als Bagatelldelikte ab und zogen folgendes Fazit: Die Medien und die Sicherheitsbehörden würden die Gefährlichkeit der Motorradgangs überschätzen.
Über das Ausmass des Kokainhandels in Europa wissen die Behörden allerdings erst seit zwei spektakulären Überwachungsaktionen Bescheid. In den Jahren 2020 und 2021 knackte die Polizei die verschlüsselten Chatsysteme Encrochat und Sky-ECC. Dabei handelt es sich um eine Art «Whatsapp für Gangster», die auf vermeintlich besonders sicheren Smartphones vorinstalliert waren. Die Daten zeigen, dass die Hells Angels in mehreren Regionen bedeutende Akteure im Kokainhandel sind.
Die Polizei hat den aktuellen Fall mit abgefangenen Sky-ECC-Nachrichten aufgedeckt. Die Chatprotokolle geben einen episodenhaften Einblick in den Kokainhandel. Mal geht es um grosse Transporte quer durch Europa, mal um den Verkauf einiger Gramm in der Region.
Manuel F., der Tätowierer der Hells Angels Riverside in St. Margrethen, soll am Handel mit 28 Kilogramm Kokain beteiligt gewesen sein. Der Strassenverkaufswert entspricht einem Einfamilienhaus. Er chattete auf seinem Kryptohandy unter anderem mit seinem Bruder, der nun ebenfalls im Gefängnis sitzt.
An einem Novembertag vor vier Jahren informierte Manuel F. ihn, dass er am nächsten Tag für einen Kunden in der Schweiz 460 Gramm Kokain für 20'000 Euro benötige. Der Bruder gab ihm darauf einen Übergabeort in Österreich an. Fünf Tage später beauftragte Manuel F. eine unbekannte Lieferantin, zwei Kilogramm Kokain von Amsterdam in die Schweiz zu schmuggeln.
Nach diesem Muster geht es in den Chats weiter. Das Netzwerk um die Hells Angels organisierte den Warenfluss im deutschsprachigen Raum, als ginge es um Bananenimporte.
Umstritten ist, ob die Sky-ECC-Daten vor Gericht verwendet werden dürfen. Verteidiger stellen das in Frage, weil sie mit der Massenüberwachung den Datenschutz verletzt sehen. Im ersten Fall in der Schweiz – ein kolumbianischer Drogenboss aus Basel – hat sich das Gericht jedoch für eine Verwertbarkeit entschieden.
Auch Manuel F. wehrte sich gegen seine Auslieferung mit dem Argument, die Polizei habe die Beweise illegal erhoben. Doch damit hat er keine Chance. Das Bundesgericht tritt auf seine Beschwerde nicht einmal ein.
Die Fragen hat nun das Landesgericht Feldkirch zu beantworten, wo alle Mitglieder der Bande angeklagt werden. Die Verhandlung gegen den Hells-Angels-Präsidenten hat bereits begonnen. In Österreich sind Strafverfahren zu einem früheren Zeitpunkt als in der Schweiz öffentlich. Dafür beanspruchen die Verhandlungen mehr Zeit.
Der Hells-Angels-Prozess dürfte sogar einen Rekord aufstellen. Denn der Rockerboss hat verlangt, dass das Gericht seine ganze Akte vorliest. Dieses Recht haben Beschuldigte in Österreich grundsätzlich, aber sie beanspruchen es fast nie. Die Richter müssten nun 4000 Seiten vorlesen. Zusätzlich verlangen die Verteidiger, dass das Gericht auch 6000 Seiten Chatprotokolle rezitiert.
«Na schön, dann wird jetzt eben gelesen.» Mit diesen Worten kündigte der Vorsitzende kürzlich die längste Lesung in der Geschichte seines Gerichts an. Es hat den Prozess allerdings auf unbestimmte Zeit verschoben, um den beweiswürdigen Teil des Aktenberges einzugrenzen und die Lesedauer zu verkürzen. Dennoch werden wochenlange Vorlesungen erwartet.
Der Hells-Angels-Boss trat vor Gericht wie ein normaler Geschäftsmann in einem hellblauen Hemd auf, das sich um seinen Bauch spannte. Seine einzigen Worte bis jetzt: «nicht schuldig!»
Nur ein Mann der Drogenbande ist bisher geständig: ein 38-Jähriger, der ein unauffälliges Leben mit Familie und gutem Lohn führte. Doch offenbar gierte er nach mehr. Er flog vor seinen Kollegen auf und sass bereits im Gefängnis, als sie verhaftet wurden. Nun erhält er eine Zusatzstrafe.
Vor Gericht sagte er: «Die Jahre in Haft haben mir die Augen geöffnet.» Im Gefängnis sei er täglich mit Drogensüchtigen konfrontiert. Dadurch sehe er das Kokainbusiness heute anders: «Ich schäme mich, Teil dieses Systems gewesen zu sein. Ich möchte mich entschuldigen; beim Volk, beim Gericht – und bei meiner kleinen Tochter.»
Vor dem gleichen Gericht wird dereinst auch Manuel F. stehen. Die Schweizer Justiz liefert die in der Schweiz verhafteten Österreicher aus.
Manuel F. wehrte sich erfolglos dagegen. Vor dem Bundesstrafgericht klagte er, dass er sich in der Ostschweiz um seine Tochter und seine 40 bis 50 Angestellten kümmern müsse. Er besitze nicht nur mehrere Tattoo-Studios, sondern sei auch im Solarmarkt und Autohandel tätig. Zudem führe er ein Bauunternehmen. Er sei sogar ein Wohltäter, der eine Stiftung für Kinder- und Jugendschutz gegründet habe.
Eine Recherche im Handelsregister stellt die Seriosität des Firmengeflechts infrage. Eine der Firmen hat Manuel F. an einen Solarunternehmer verkauft, gegen den Ermittlungen wegen Betrug und Veruntreuung laufen.
Alle Firmensitze hat Manuel F. ausserdem an der gleichen Adresse registriert: jener seines Tattoo-Studios in St. Margrethen. Den Betrieb führt seit der Verhaftung seine Frau. Bei einem Augenschein vor Ort bespricht ein Tätowierer auf einem abgewetzten Ledersofa gerade ein Motiv mit einem Kunden.
Frau F. tritt aus dem Hintergrund und deutet an, wie schwierig die Situation für sie und ihre Kinder seit der Festnahme ihres Mannes sei. Sie kann ihn zweimal pro Woche in der Haft besuchen und verspricht, ihn bei der nächsten Visite zu fragen, ob er Auskunft geben möchte. Nervös streicht sie mit ihren blauen Fingernägeln über die Visitenkarte des Reporters. Niemand wird sich melden. (aargauerzeitung.ch)